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Wenn Justizia irrt

Auch die Justiz macht Fehler. Und das nicht selten. Vor allem bei kleinen Delikten im Strassenverkehr trifft ein Strafbefehl immer mal wieder den Falschen, sagt der Rechtswissenschaftler Martin Killias.

Von Daniela Schwegler

Ein Gefangener wartet im US-amerikanischen Bundesstaat Virginia 24 Jahre lang auf seine Hinrichtung. Verurteilt zum Tod wegen eines grauenhaften Vergewaltigungsmords. Bloss: Er ist unschuldig. Der Zufall will es, dass die Wahrheit bei einer Routineuntersuchung zu Tage tritt. Eine Wahrheit, die Leben rettet. 68 Prozent aller Todesurteile in den USA weisen schwere Fehler auf, wie eine Untersuchung der Columbia- Universität zeigt. Jeder fünfzehnte Verurteilte war unschuldig. «Auch in der Schweiz werden Menschen verurteilt für Taten, die sie gar nicht begangen haben», sagt Martin Killias, Professor für Straf- und Strafprozessrecht, «allerdings glücklicherweise mit weniger schwerwiegenden Konsequenzen als in den USA.»

Und seltener. Das liege daran, dass Strafverfolgungsbehörden in Europa und der Schweiz – anders als in den USA – auch entlastenden Momenten nachgehen müssen. Gut illustriert dies der Fall eines 58-jährigen Franzosen, der von der Genfer Justiz 2001 eine Entschädigung von 2,3 Millionen Franken forderte. Er war zehn Jahre zuvor zu Unrecht wegen eines brutalen Raubüberfalls auf eine Genfer Bijouterie zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. 1999 hatten zwei reuige italienische Kriminelle vor einem italienischen Gericht bezeugt, dass ihre Bande den Überfall 1983 beging. Den Franzosen, der trotz eines Alibis dreieinhalb Jahre hinter Gittern verbringen musste, hätten sie noch nie gesehen. Als der Staatsanwalt diese Aussagen im Zusammenhang mit einem ganz anderen Verfahren mehr oder weniger zufällig entdeckte, leitete er von sich aus die Rehabilitierung des unschuldig Verurteilten ein. In den USA wäre so etwas undenkbar.

DER FALL FERRARI

In der Schweiz Aufsehen erregt hat der Fall des Kindermörders Werner Ferrari, der 1995 wegen fünffachen Mordes zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt und 2007 in einem Fall – dem Mord an der zwölfjährigen Schülerin Ruth Steinmann – wieder freigesprochen wurde. Am Strafmass, lebenslänglich, hat sich dadurch nichts geändert. Die meisten Justizirrtümer verursachen aber weit weniger Medienwirbel als der Fall Ferrari. «Das grosse Mehr der Fehlurteile betrifft kleinere Fälle», sagt Martin Killias. Total 237 unschuldig Verurteilte listet die Datenbank der Justizirrtümer auf, die er und seine Assistentinnen Gwladys Gilliéron und Nathalie Dongois von der Universität Lausanne im Rahmen einer Nationalfondsstudie erstellt haben. «Viel mehr als wir uns je vorgestellt hätten.»

Grundlage der delikaten Daten bilden alle im Rahmen eines Revisionsverfahrens umgestossenen Urteile zwischen 1995 und 2004. Mit Freiheitsstrafen von mehr als zwei Jahren betroffen waren allerdings nur zwölf Personen, wobei es meistens um das Strafmass und nicht die Schuldfrage ging. «Alle anderen waren kleinere Fälle», so Martin Killias. «Zwei Drittel betrafen Strafbefehle, nur ein Drittel der Justizirrtümer sind Urteile eines Gerichts.» Klar, im Vergleich zu den Zehntausenden von Strafurteilen, die jedes Jahr gefällt werden, seien die 237 Justizirrtümer ein verschwindend geringer Bruchteil. «Das ist aber kein wirklicher Trost, sind doch die Hürden für ein erfolgreiches Wiederaufnahmeverfahren sehr hoch.»

Denn ist ein Strafbefehl oder Urteil rechtskräftig, muss ein Unschuldiger Triftiges vorbringen, um die Justiz von ihrem Irrtum zu überzeugen. Es müssen harte Fakten auf den Tisch. Neue Beweismittel, die zu einem früheren Zeitpunkt nicht beigebracht werden konnten. Zum Beispiel ein psychiatrisches Gutachten. Oder eine DNA-Analyse, die hieb- und stichfest zeigt, dass der vermeintlich Schuldige nicht der Täter ist. «Dieser Unschuldsnachweis gelingt nur wenigen. Die Zahl der zu Unrecht Verurteilten liegt deshalb wohl viel höher, als unsere Untersuchung ergeben hat», so der Strafrechtsprofessor. «Viele Irrtümer bleiben unentdeckt – mangels neuer Beweismittel oder auch wegen fehlender Energie oder finanzieller Mittel der Unschuldigen, ein falsches Urteil anzufechten.» Hinzu kommt, dass in Europa – anders als in den USA – Spuren nur selten über die Rechtskraft des Urteils hinaus aufbewahrt werden und daher für spätere neue Analysen nicht mehr zur Verfügung stehen.

FEHLURTEILE KÖNNEN JEDEN TREFFEN

Für Martin Killias ist klar: «Ein Fehlurteil kann jeden treffen.» Jeder dritte Mann in der Schweiz ist vorbestraft – bei den Frauen ist es nur jede zehnte. Die grosse Mehrheit davon durch einen Strafbefehl wegen eines Deliktes im Strassenverkehr. «Die Qualität eines Rechtssystems misst sich nicht allein daran, wie es prominente Fälle bewältigt, sondern wie es mit kleinen Leuten und ihren täglichen Problemen umgeht», meint der Rechtsexperte.

Martin Killias kritisiert, dass die schweizerische Praxis extrem «strafbefehlslastig» geworden sei. Drei von vier Strafverfahren enden mit einem Strafbefehl, also einer Verfügung in der Regel eines Staatsanwalts – nur jeder vierte Fall kommt vor Gericht. Mit dieser Quote liegt die Schweiz europaweit an der Spitze. Das Problem dabei: Der urteilende Beamte entscheidet in der Regel allein aufgrund der Polizeiakten und hört die Beschuldigten nicht an. «Ein solch summarisches Verfahren, in der die Stimme des Beschuldigten nicht einfliesst, ist enorm fehleranfällig. » Die Korrekturmöglichkeiten durch den Betroffenen fehlen.

Dass Beschuldigte zum Teil gar nicht zu Wort kommen, sei Hauptproblem des Strafbefehlverfahrens. «Bei allen anderen rechtlichen Verfahren wird das rechtliche Gehör strikt gewährt», sagt Killias, «aber im Strafverfahren werden zwei von drei Verurteilten nicht angehört. Das erinnert an die Zustände unter dem Ancien Régime, als Zivilurteile an mehrere Instanzen weitergezogen werden konnten, zum Tode Verurteilte jedoch unmittelbar nach der Urteilsverkündung in erster Instanz hingerichtet wurden. Wenn irgendwo das rechtliche Gehör unabdingbar ist, dann doch wohl in erster Linie im Strafverfahren.»

BESCHULDIGTE ANHÖREN

Die Forderung des Strafrechtsprofessors ist deshalb klar: jeder Beschuldigte sollte angehört werden – auch im Strafbefehlsverfahren. Eine Gesetzesänderung tue not. Und der Zeitpunkt, die Verfahrensregeln zu ändern, ist eigentlich günstig, sind doch die Kantone daran, sich von ihren eigenen 26 kantonalen Strafprozessordnungen zu verabschieden. Eine gesamtschweizerische Regelung für den Strafprozess ist in der Pipeline. Nur: Mit dem Entwurf des Bundesrates zur neuen Strafprozessordnung würde alles noch schlimmer, da der Anwendungsbereich des Strafbefehls erweitert werden soll, ohne dass der Angeschuldigte im Normalfall angehört würde. Der Strafrechtsprofessor setzt nun aufs Korrektiv des Parlaments. In diesem Herbst berät der Nationalrat als zweite Kammer über die neue einheitliche Strafprozessordnung.

Martin Killias’ Korrekturvorschläge: Ein Strafbefehl soll ohne Anhörung nur mehr dann in Frage kommen, wenn der Beschuldigte den Sachverhalt anerkennt. Zudem dürfe sich der Staatsanwalt nicht mehr nur ausschliesslich auf den – oft lückenhaften – Polizeirapport stützen. «Dass ein Strafbefehl vor Gericht weitergezogen werden kann, bietet keinen Ersatz für die Anhörung durch die erste Behörde. Viele Angeschuldigte verstehen die juristische Formularsprache mit der Rechtsmittelbelehrung im Strafbefehl gar nicht. Der Angeschuldigte muss deshalb schon ganz zu Beginn des Verfahrens zu Wort kommen», sagt Killias, «nicht erst, wenn das Fehlurteil in den Köpfen schon gefällt ist.»