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Wenn im Kopf die Lichter ausgehen

Das Hormon Cortisol ist verantwortlich dafür, dass unser Gedächtnis in Stresssituationen zuweilen aussetzt. Das ist schlecht. Aber nicht nur, wie der Hirnforscher Dominique de Quervain herausgefunden hat.

Von Thomas Gull

Sie haben sich gut vorbereitet. Sie haben viel gelernt und Aufgaben von früheren Tests durchgespielt, die Sie ohne grosse Probleme lösen konnten. Sie sind zuversichtlich, der Herausforderung gewachsen zu sein. Und dann, in der Stunde der Wahrheit, sitzen Sie vor dem Blatt mit den Prüfungsfragen und es fällt Ihnen beim besten Willen nichts ein. Dafür erinnern Sie sich noch Jahre später detailliert an jene peinigenden Augenblicke, als in Ihrem Kopf die Lichter ausgingen. Viele von uns haben solche Blackouts schon erlebt, bei Prüfungen, einem Vorstellungsgespräch oder in anderen Situationen, in denen wir unter Stress standen.

Heute wissen wir, was beim Blackout eine wichtige Rolle spielt: das Stresshormon Cortisol. Es hindert das Gehirn daran, abgespeicherte Informationen wieder zu finden. Das lässt sich sogar mit bildgebenden Verfahren wie der Positronen- Emissions-Tomographie (PET) zeigen: Bei erhöhten Cortisolwerten nimmt im Hippocampus – dem Hirnareal, das zentral ist für den Abruf von Gedächtnisinhalten – der Blutfluss und damit die neuronale Aktivität ab. Gleichzeitig unterstützt Cortisol das Abspeichern emotionaler Erinnerungen wie etwa einer schwierigen Prüfungssituation. Diese bahnbrechenden Erkenntnisse hat der heute 37-jährige Hirnforscher Dominique de Quervain gemacht, der an der Abteilung für Psychiatrische Forschung der Universität Zürich die Forschungsgruppe «Gedächtnis» leitet. Seine Blackout-Studie ist ein wichtiger Puzzlestein für das Verständnis der Wirkung des Stresshormons Cortisol.

VERGESSLICHE RATTEN

Die Cortisol-Forschung hat Dominique de Quervains wissenschaftliche Karriere vor rund 10 Jahren lanciert. Während seines Wahlstudienjahres hatte de Quervain als angehender Arzt im Labor von Professor James L. McGaugh an der University of California die Auswirkungen von Stress auf das Gedächtnis untersucht. Das Thema faszinierte den jungen Wissenschaftler, und er kehrte 1997 als frisch gebackener Doktor der Medizin in McGaughs Gruppe zurück. McGaugh erforschte, wie sich Stresshormone wie Adrenalin auf die Abspeicherung von Gedächtnisinhalten im Gehirn auswirken. De Quervain arbeitete an dieser Fragestellung mit Tierexperimenten: Ratten mussten in Wassertanks schwimmend Plattformen wiederfinden, die sich unter der Wasseroberfläche befanden. Dabei fiel ihm auf, dass Ratten, die gestresst waren, mehr Mühe hatten, die Plattformen ausfindig zu machen. Das heisst, sie konnten sich weniger gut erinnern, wo die Plattformen waren.

BLACKOUT-HORMONE

«Das ist im Prinzip nichts Weltbewegendes», kommentiert de Quervain heute gelassen die Beobachtung, die am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere stand, «wir alle haben schon die Erfahrung gemacht, dass wir uns unter Stress nicht so gut erinnern.» Doch de Quervain gaben die gestressten Ratten, die ziemlich kopflos im Wassertank herumschwammen, zu denken: «Mir wurde bewusst, dass man über die Mechanismen des Blackouts relativ wenig wusste.» Wenn man sich unter Stress weniger gut erinnert, können ganz verschiedene Faktoren eine Rolle spielen, denn Stress löst im Körper eine ganze Kaskade von Reaktionen aus. Eine davon ist die Ausschüttung von Adrenalin, das sofort ins Blut schiesst, das Herz zum Rasen bringt und, wenn der Stress vorbei ist, innerhalb weniger Minuten wieder abfällt. Eine weitere die Ausschüttung des Glucocorticoid- Hormones Cortisol, das allerdings erst nach 10 bis 15 Minuten freigesetzt wird und dessen Konzentration im Blut dann für zwei bis drei Stunden erhöht bleibt.

Aufgrund dieses «Zufallsbefundes», wie er seine damalige Beobachtung nennt, machte de Quervain weitere Versuche. Dabei stellte er fest, dass die Ratten die Plattformen problemlos fanden, wenn sie unmittelbar vor der Aufgabe einem Stressreiz in Form eines Stromstosses ausgesetzt waren. Eine halbe Stunde später schnitten sie jedoch wesentlich schlechter ab. Nach vier Stunden normalisierte sich die Leistung wieder. Damit war klar: am Adrenalin konnte es nicht liegen. Weitere Tests belegten, dass das Glucocorticoid-Hormon für die vorübergehende Gedächtnisschwäche der Ratten verantwortlich war.

Der Befund wurde 1998 vom renommierten Wissenschaftsjournal «Nature» publiziert. Ein grosser Erfolg für den damals 30-jährigen Postdoc. Doch Dominique de Quervain dachte bereits weiter, ihn reizte der Schritt von der Tier- zur Humanforschung: «In der Tierforschung war man sich schon lange bewusst, wie wichtig es ist, bei der Untersuchung pharmakologischer Effekte auf das Gedächtnis verschiedene Gedächtnisphasen auseinander zu halten. Das Abspeichern eines Gedächtnisinhaltes und das Wiederfinden gespeicherter Informationen sind zwei verschiedene Prozesse. In der Humanforschung wurde diese Unterscheidung jedoch kaum gemacht.» Wie Hirnforscher de Quervain später zeigen konnte, führt die Differenzierung der beiden Prozesse zu erstaunlichen Erkenntnissen.

Nach seinem ersten wissenschaftlichen Erfolg kehrte Hirnforscher Dominique de Quervain in die Schweiz zurück und machte als Assistenzarzt an der Universität Basel seine «Blackout- Studie»: Er untersuchte, wie sich Cortisol beim Menschen auf verschiedene Gedächtnisprozesse auswirkt. Die Versuchspersonen mussten 60 Wörter lernen und erhielten zu unterschiedlichen Zeitpunkten entweder 25 Milligramm Cortison, das im Blut in Cortisol umgewandelt wird, oder ein Placebo.

Wenn die Cortison-Tablette unmittelbar nach dem Lernen eingenommen wurde, hatte diese keinen Einfluss auf die Leistung beim Test, der einen Tag später stattfand. Cortisol wirkt sich demnach nicht negativ auf das Abspeichern von Informationen aus. Ganz anders sieht es aus, wenn es darum geht, Gedächtnisinhalte wieder zu finden – wenn den Probanden eine Stunde vor dem Test Cortison verabreicht wurde, verschlechterten sich ihre Testresultate massiv. Die «Blackout-Studie» wurde in «Nature Neuroscience» publiziert – im April 2000. Zu diesem Zeitpunkt leitete de Quervain bereits als Assistenzarzt an der Abteilung für Psychiatrische Forschung der Universität Zürich die Forschungsgruppe «Gedächtnis». Eine ganz unerfreuliche Sache also, dieses Cortisol. Man gerät etwas ins Grübeln: Weshalb um Himmels willen produziert unser Körper eine Substanz, die dazu führt, dass wir in existenziellen Momenten den Kopf verlieren. Wir, die Krone der Schöpfung, die wir unseren evolutionären Siegeszug doch gerade damit begründen, dass unser Denkorgan besser funktioniert als das der anderen Lebewesen auf diesem Planeten. Da macht ein Kopflos-Hormon doch eigentlich keinen Sinn. Das Hormon Cortisol muss deshalb ein evolutionsbiologischer Blindgänger sein, der bisher allen Ausmerzungsversuchen durch die Selektion widerstanden hat. Tatsächlich hat Cortisol auch in der Psychopathologie einen schlechten Ruf, konstatiert de Quervain: «Die Forschung zeigte, dass der Cortisol-Spiegel dann hoch ist, wenn etwas Schlechtes passiert, und oft wurde daraus der Schluss gezogen, dass Cortisol ein schlechtes Hormon sei.»

FURCHTBARE ERINNERUNG

Doch de Quervain begnügte sich nicht mit dieser einseitigen Deutung. «Ich fragte mich, ob das Hormon nicht auch ausgeschüttet werden könnte, um uns mit seiner Wirkung im Gehirn bei der Bewältigung von Stresssituationen zu helfen.» Und der Gedächtnisforscher hatte noch einen weiteren genialen Gedanken: Wenn Cortisol dazu führt, dass wir Gedächtnisinhalte weniger gut abrufen könne, ist dies in der Regel eher ärgerlich. Es sei denn, die Gedächtnisinhalte sind unerfreulich. Und genau mit solchen Konstellationen beschäftigt sich de Quervain. Was er dabei bisher herausgefunden hat, ist sensationell: Cortisol kann helfen, traumatische Erinnerungen zu dämpfen oder Phobien zu lindern. Sich zu erinnern, kann furchtbar sein. Etwa für Menschen, die am Posttraumatic Stress Disorder (PTSD) leiden. Sie werden immer wieder von Erinnerungen an traumatische Erlebnisse überfallen. «Im Extremfall setzt das Gehirn bei solchen Flashbacks alle Elemente des traumatischen Erlebnisses wieder genau so zusammen, dass die Betroffenen das Gefühl haben, sich in der damaligen Situation zu befinden. Sie sehen beispielsweise Verwundete, hören Schreie, riechen Rauch.» Diesen Eindrücken können sich die Traumatisierten nicht entziehen. Noch schlimmer: Die Flashbacks wirken wie ein neues Erlebnis, das sich wieder frisch im Gehirn abspeichert. Menschen mit PTSD sind Gefangene ihrer Erinnerungen und deshalb oft nicht mehr in der Lage, ein normales Leben zu führen.

Im Rahmen einer Pilotstudie der Abteilung für Psychiatrische Forschung hat de Quervain drei Patienten mit PTSD begleitet. Die Probanden erhielten während eines Monats täglich 10 Milligramm Cortisol, wobei sie nicht wussten, wann sie Cortisol erhielten und wann Placebo. Cortisol in dieser niedrigen Dosierung wird nicht bewusst wahrgenommen und hat keine Nebenwirkungen. Alle drei Patienten, zwei Männer und eine Frau, hatten schwere traumatische Erlebnisse: Die Frau war angegriffen und schwer verletzt worden, einer der Männer hatte einen Terroranschlag überlebt, der andere einen schweren Autounfall. Die drei Patienten mussten während der dreimonatigen Beobachtungszeit Tagebuch führen und die Intensität beschreiben, mit der sie von ihren traumatischen Erinnerungen heimgesucht wurden.

WENIGER FLASHBACKS

Tatsächlich konnte festgestellt werden, dass sich das Cortisol auswirkte, allerdings nicht bei allen Patienten auf gleiche Weise: Beim Mann, der die Terrorattacke überlebte, nahm die Intensität, nicht aber die Häufigkeit der Flashbacks ab. Die Frau hatte weniger Albträume, deren Intensität veränderte sich jedoch nicht. Und beim Unfallopfer stellten sich beide Effekte ein – die Intensität und die Häufigkeit der Erlebnisse nahmen ab. De Quervain ist mit dem Ergebnis der Pilotstudie zufrieden: «Es haben nicht alle drei gleich reagiert. Für uns war aber wichtig zu sehen, dass sich etwas verändert.» Jetzt ist eine grosse Studie mit 100 Patientinnen und Patienten in Vorbereitung, die während 3 Monaten entweder täglich 10 Milligramm Cortisol oder ein Placebo erhalten sollen. Ziel der Studie ist, festzustellen, ob die Gabe von Cortisol klinische Relevanz hat. Das heisst, ob Menschen mit PTSD auf diese Weise geholfen werden kann.

NIE MEHR ANGST VOR SPINNEN

Gibt es bald die Pille, die Erinnerungen auslöscht? «Das ist weder vorstellbar noch erwünscht », betont de Quervain, «Cortisol führt nicht dazu, dass wir völlig vergessen, was wir erlebt haben. Aber wenn es gelingt, den Abruf von traumatischen Erinnerungen zu dämpfen, könnten die Heilungschancen verbessert werden. Das wäre ein wichtiger Beitrag zu einer normalen Verarbeitung der Erlebnisse.»Was man mittlerweile auch weiss: Menschen, die an PTSD leiden, haben tiefe Cortisol-Werte. «Wir fragen uns deshalb», sagt de Quervain, «haben diese Menschen ein PTSD, weil sie zu wenig Cortisol produzieren? Oder haben sie wegen des PTSD tiefe Cortisol-Werte?»

Während die ersten PTSD-Befunde mit weiteren Studien erst noch belegt oder falsifiziert werden müssen, hatte de Quervain zusammen mit anderen Forschenden der Universität Zürich in einer Studie, die im März in der Wissenschaftszeitschrift «PNAS» veröffentlicht wurde, Hinweise gefunden, dass mit Hilfe von Cortisol eventuell auch Phobien behandelt werden könnten. Untersucht wurden zwei Arten von Phobien: soziale Phobie, das heisst, die Angst beispielsweise vor einer Gruppe von Leuten sprechen zu müssen, und die Spinnenphobie. «Bei Phobien spielt das Angstgedächtnis eine wichtige Rolle», erklärt de Quervain, «wenn man als Spinnenphobiker eine Spinne sieht, löst das über den Abruf des Stimulus-assoziierten Angstgedächtnisses eine Angstreaktion aus.» Wenn deshalb der Abruf dieses Angstgedächtnisses gehemmt werden könnte, sollte auch die Angst abnehmen, war die These. Dieser Effekt stellte sich tatsächlich ein: Phobiker, denen Cortisol verabreicht wurde, hatten weniger Angst vor Spinnen und weniger Angst, öffentlich aufzutreten. Bei der Spinnenphobie wirkte die Cortisol- Behandlung sogar nach – auch zwei Tage nachdem das Hormon abgesetzt worden war, reagierten die Probanden weniger heftig auf Spinnen. «Es könnte deshalb sein, dass Cortisol dabei hilft, die Angst zu vergessen.» Damit wäre die Gabe von Cortisol eine ideale Ergänzung zu einer Verhaltenstherapie. Um das herauszufinden, ist eine weitere Studie geplant.

Während er noch damit beschäftigt ist, den klinischen Nutzen seiner Grundlagenforschung abzuklären, hat de Quervain bereits neue Ziele. Die Förderprofessur des Schweizerischen Nationalfonds, die er vor einem Jahr erhalten hat, eröffnet ihm die Perspektive, längerfristig zu planen. Mit Andreas Papassotiropoulus, der die Forschungsgruppe «Klinische Genetik» leitet, beschäftigt er sich erfolgreich mit der Genetik des Gedächtnisses, gemeinsam haben sie bereits Gedächtnis-Gene identifiziert. Jetzt möchte de Quervain die beiden Forschungsbereiche verschmelzen und zusammen mit Papassotiropoulos die Stresshormonsysteme genetisch untersuchen.

Und dann ist da noch das ganz grosse Thema, das ihn reizt: De Quervain möchte herausfinden, wie sich Stress auf unser Verhalten auswirkt – weshalb verhalten wir uns so, wie wir uns verhalten, wenn wir gestresst sind, lautet in etwa die Frage. Und die gilt es zu beantworten – natürlich mit allen neurobiologischen und hormonellen Facetten. Ein weites Feld für bahnbrechende «Zufallsbefunde». Man darf gespannt sein.