News175 Jahre UZHAgendaVeranstaltungenFakultätstageAusstellungenBlog

jubiläumstram

In den Tiefen des Zürichsees

Bis in die 1980er-Jahre hielt die Überdüngung des Zürichsees Forscher in Atem. Heute ergründen aquatische Mikrobiologen der Universität Zürich das geheime Leben von Wasserbakterien und Plankton-Einzellern.

Von Ruth Jahn

Morgens um zehn am Zürichseeufer in Kilchberg- Bendlikon. Der Duft heisser Schokolade, den die nahe Fabrik von «Lindt und Sprüngli» verströmt, liegt in der Luft. Ferdinand Schanz wäre echter Seegeruch mit einer Algen- oder Fischnote lieber. Er steigt in seine Gummistiefel, nimmt seine Allwetterjacke und eine Schwimmweste vom Haken. Der Seenforscher belädt ein kleines Motorboot, das vor der Limnologischen Forschungsstation der Universität Zürich ankert, mit grossen Flaschen und allerlei Messgeräten. Seit dreissig Jahren fährt der Professor für Hydrobiologie und Limnologie (Seenkunde) einmal wöchentlich auf den See. Er misst verschiedene physikalische und chemische Grössen des Sees und erforscht auch das im Wasser schwebende Plankton. Kaum jemand kennt die Tiefen des Zürichsees so gut wie er.

Die Fahrt in die Seemitte dauert einige Minuten. Die Flaschen für die Wasserproben klappern bedenklich, hinter dem Heck teilt sich das Wasser. Dann plötzlich ist es still. Auch hier draussen riecht es noch nach Schokolade. Ferdinand Schanz lässt den Blick in die Ferne schweifen: Im Hintergrund sind an diesem dunstigen, kalten Morgen Ende August Albiskette, Gottschalkerberg, Schindellegi, Etzel und das Stöcklichrüz zu sehen. Schanz weiss, welche Hügel früher Rebhänge waren, kennt alle Zuflüsschen des Zürichsees und ihre Deltas und überblickt, wo Kläranlagen ihr Abwasser in den See fliessen lassen. Schanz deutet auf die mittelalterliche Zehntentrotte am Küsnachter Ufer und auf das nahe Gebäude der Swissfirst-Bank, wo früher eine Färberei stand. Überhaupt die Färbereien: Aus Erzählungen seines Vaters weiss Ferdinand Schanz von den roten, gelben und blauen Abwasserfahnen, die in den 1920er-Jahren von den Färbereien her am Ufer des Sees entlang bis zur Limmat hinunterzogen.

Nicht immer war der See so sauber und im Jahresverlauf so häufig klar wie heute. 1970 war die Konzentration an gelöstem Phosphor fast zehnmal höher. Der See war überdüngt und immer wieder von Algenblüten getrübt. Nun dringt wieder mehr Licht in grössere Tiefen, was sich positiv auf die Biodiversität im See auswirkt. Und der Phosphorgehalt entspricht demjenigen von Anfang der 1950er-Jahre. Der Einbau einer chemischen Phosphatfällung sowie die nachgeschaltete Filtration in allen Abwasserreinigungsanlagen rundherum haben den Zürichsee gesunden lassen. Die Überdüngung, die von den 1950er- bis 1980er-Jahren die Seenforscher in Atem hielt, wurde gestoppt. Dass dabei Phosphor – und nicht Stickstoff – der Nährstoff ist, der das Wachstum des Phytoplanktons beschränken oder eben zum Überborden bringen kann, erkannte als einer der ersten Wissenschaftler Eugen A. Thomas. Seine Forschungsarbeiten zum Phosphor in Seen brachten ihm internationale Anerkennung. Das war in den 1950er-Jahren. Viele Limnologen waren damals fälschlicherweise noch überzeugt, dass Stickstoff der Übeltäter ist – woraus ein bissiger Biologen-Disput mit anderen Schweizer Hochschulen erwuchs. Eugen A. Thomas wurde später erster Direktor der Limnologischen Station der Universität Zürich.

REICHE FISCHGRÜNDE

Ferdinand Schanz winkt dem Kapitän des vorbeigleitenden Kursschiffs «Helvetia» und einem Fischer. Zwei Berufsgattungen mögen den Zeiten der Überdüngung nachweinen: die Fischer und die Fischköche. Denn die Abnahme des Phosphors hat in vielen Seen die Biomasse des Phytoplanktons reduziert, die Lieblingsspeise von Kleinkrebsen. Und dies wiederum hat wahrscheinlich die Zahl der Felchen, Egli, Saiblinge und Seeforellen vermindert – weiterer Glieder der Nahrungskette im See. Allerdings: Der Fischreichtum im Zürichsee ist weit weniger zurückgegangen als etwa der im Vierwaldstätter- oder im Walensee.

Sachte lässt Ferdinand Schanz eine runde, weisse Blechscheibe an einer Schnur mit Längenmarkierungen in die Tiefe sinken. Er blickt durch einen Gucker ins Wasser und notiert, in welcher Tiefe die Scheibe gerade noch zu erkennen ist. Die so genannte Secchi-Scheibe ist ein Meereskunde-Relikt: Der italienische Jesuitenpater und Astrophysiker Angelo Secchi (1818–1878) hat das Gerät seinerzeit erfunden, um die Sichttiefe im Mittelmeer zu beschreiben. Im Zürichsee verschwindet die Scheibe an diesem Vormittag in einer Tiefe von 4,5 Metern. «Bedenkt man den bedeckten Himmel und dass es Spätsommer ist, ist das Wasser nahe der Oberfläche relativ klar: Es hat vergleichsweise wenig Plankton oder Abbauprodukte von Planktonorganismen», erläutert Ferdinand Schanz. Noch rund 20 Prozent der Oberflächenintensität erreicht das Licht in 4,5 Metern Tiefe, so besagt eine Messung, mit dem Quantenfühler, einer anderen Apparatur, die wie eine überdimensionierte Glühbirne aussieht. Bei der 10- Meter-Marke sind es noch etwa 3 Prozent des Oberflächenlichts. Ab 25 Meter abwärts ist es quasi Nacht, bis hinunter zum Seegrund. Ferdinand Schanz hievt die Schnur wieder ins Boot.

JENSEITS DER PHOTOSYNTHESE

Ende August ist der See nicht durchmischt wie im Winter, sondern bildet drei Schichten. Am trübsten ist derzeit die so genannte Sprungschicht zwischen 10 und 15 Metern. Hier nimmt die Temperatur sprunghaft ab. In 10 Meter Tiefe ist es mit fast 20 Grad ähnlich warm wie an der Oberfläche, in 15 Meter Tiefe dagegen nur noch gerade 6 Grad. Die hohe Wasserdichte bremst die Absinkgeschwindigkeit von absterbenden Algen und Kleinkrebsen und lässt sie akkumulieren. Ausserdem kommt in diesem Tiefenbereich auch das Bakterium Planktothrix rubescens vor, die so genannte Burgunderblutalge. «Die Lage der Sprungschicht ist typisch für den Zürichsee, das war sicher schon vor 500 Jahren so», sagt Ferdinand Schanz. Bestimmt wird diese Charakteristik des Zürichsees vor allem durch lokale Winde und andere klimatische Bedingungen. Gut zu lokalisieren ist die Sprungschicht auch bei der Sauerstoffmessung: So wenig Sauerstoff wie in 15 Meter Tiefe hat es nur noch unmittelbar über dem Seegrund: Bakterien, Algen und das Zooplankton haben den Sauerstoff verzehrt. Ab 20 Meter beginnt dann das klare Tiefenwasser: Hier ist keine Photosynthese mehr möglich, aber auch hier finden sich Zersetzer und Konsumenten – Bakterien, Kleinkrebse und Fische.

DAS VERBORGENE LEBEN DES ZÜRICHSEES

Mit den Messungen können die Forscher die biologische Dynamik des Sees verfolgen. Auch die globale Erwärmung seit den 1990er-Jahren ist laut Schanz in den Daten gut feststellbar: «Manchmal sammeln Forscher eben Daten, ohne im Voraus genau zu wissen, welche Fragen damit einmal beantwortet werden können.» Ausserdem hat der Biologe Modelle zur Entwicklung und Ausbreitung der Burgunderblutalge studiert. Im Oktober, wenn der See immer mehr abkühlt und sich mit den Herbststürmen auch zu durchmischen beginnt, steigen die Algen in manchen Jahren an die Seeoberfläche und bilden dort eine rote Platte. Deshalb der Name Blutburgunderalge: Im Murtensee traten im 18. und 19. Jahrhundert Algenblüten auf, die den See rot färbten. Der Legende nach soll dies das Blut der Burgunder sein, die während der Schlacht bei Murten im See ertrunken waren. Die letzte auffällige rote «Blüte» im Zürichsee gab es im Jahr 2001.

Mit einem Haspel, einer Art kleinem Förderkran, nimmt Ferdinand Schanz Wasserproben: von der Oberfläche und in 5, 10 und 20 Metern Tiefe. Mit dabei hätte er noch viel mehr Stahlseil: 150 Meter – denn der Zürichsee ist an seiner tiefsten Stelle 136 Meter tief. An diesem Tag im August weilen die Burgunderblutalgen in einer Tiefe von etwa 10 Metern, wie der Forscher später bei der Auswertung der Wasserproben in der Forschungsstation feststellt.

An der Schiffstation Bendlikon neigt sich das Schilf zum Wasser, in einem Entenschnabel klemmt ein silbriger Fisch. Zurück im Trockenen der Limnologischen Forschungsstation, die seit 1977 in einer ehemaligen Arztvilla untergebracht ist, filtriert Ferdinand Schanz die Proben, untersucht pflanzliches und tierisches Plankton. Die getrockneten Filter wandern ins Archiv – und tatsächlich: Der Filter mit dem Wasser aus der Sprungschicht in 10 Meter Tiefe ist von den Burgunderblutalgen blutrot gefärbt.

Nebenan forscht Jakob Pernthaler. Der 38-Jährige stammt aus dem Tirol und ist seit einem Jahr Direktor der Limnologischen Forschungsstation. Er ist kein klassischer Seenforscher wie Ferdinand Schanz, sondern verkörpert eine Generation von Limnologen neuen Zuschnitts: Forscher, die sich – dank verbesserter Wasserqualität in vielen europäischen Seen – nicht mehr primär dem Gewässerschutz verpflichtet sehen müssen, sondern in das verborgene Leben des Sees eintauchen können.

Jakob Pernthaler ist Professor für aquatische mikrobielle Ökologie und hat zuletzt am Max- Planck-Institut für marine Mikrobiologie in Bremen geforscht und gelehrt. Dort hat er sich Meeresbakterien gewidmet, in Zürich nun den Seebakterien. Meere und Seen sind für ihn «ein Eldorado der Mikrobiologie», in dem er sich fühle wie Humboldt vor 150 Jahren: Denn das Gros der Bakterienarten, die im Wasser leben, ist noch unbekannt und wartet darauf, enträtselt zu werden. Dieser Forschungsrückstand hat einen ganz einfachen Grund: Die allermeisten Wassermikroben schlüpfen durchs Netz der Mikrobiologen, weil sie sich partout nicht in Nährlösung oder auf Nährplatten kultivieren lassen. So kennt man erst wenige hundert der schätzungsweise 100000 Bakterienarten in Salzund Süsswasser. Bezeichnend ist auch, dass eines der allerhäufigsten Lebewesen der Erde überhaupt – das Meeresbakterium Pelagibacter ubique, auch SAR 11 genannt – erst vor vier Jahren isoliert und benannt wurde. Dabei bildet die Mikrobe in vielen Meeresregionen einen stattlichen Anteil der Biomasse. Und nahe verwandte Arten finden sich auch im Süsswasser.

Auch der Zürichsee birgt Geheimnisse, die Jakob Pernthaler mit seinem rund zehnköpfigen Team zu lüften hofft: «Bis vor kurzem dachte man, dass grampositive Bakterien, deren Zellwände eine spezifische Struktur aufweisen, vor allem im Boden leben. Wir haben nun Hinweise darauf gefunden, dass bis über 50 Prozent aller Süsswasserbakterien solche Bakterien sind.» Neben grampositiven Bakterien interessiert sich Jakob Pernthaler für das Zusammenleben von den im freien Wasser lebenden Bakterien und ihren Räubern: einzellige Wimpern- und Geisseltierchen. «Besonders auffällig ist die hohe Mortalität der Bakterien durch ihre Fressfeinde. Dies kann unter anderem wirkungsvoll verhindern, dass Krankheitskeime überhand nehmen», so der Mikrobiologe. Im Meer würden beispielsweise Cholerabakterien oder Escherichia coli gezielt «rausgefressen». Grampositive Gewässerbakterien hingegen sind harte Nüsse für ihre Feinde: Zum einen, weil sie viel kleiner sind als die übrigen Bakterien, zum anderen, weil ihre dicke Zellwand sie vor Verdauung schützt.

DIE STAMMESGESCHICHTE DER BAKTERIEN

Bakterien sind vor allem als Krankheitserreger bekannt. Ihr Vorkommen in der Umwelt wird eher unterschätzt: Etwa 160 Tonnen Bakterien gibt es im Zürichsee, so hat Oberassistent Thomas Posch ausgerechnet. «Auch ihre Anzahl ist unglaublich: Es ist eine Zahl mit 21 Nullen», sagt der Limnologe, der wie Jakob Pernthaler aus dem Tirol stammt: «Wer sich beim Schwimmen im Zürichsee verschluckt, nimmt mehr als 50 Millionen Bakterien auf – die allerdings für den Menschen völlig harmlos sind.» Die vielen Bakterien im See sind Teil der natürlichen Gewässerreinhaltung, ähnlich einer Kläranlage, erläutert Pernthaler: «Bakterien konsumieren einerseits organisches Material wie absterbende Algen und totes Zooplankton und tragen so zur Reinigung des Wassers bei, andererseits schnappen sie den Algen das Phosphor weg und können so ein Überborden des Algenwachstum verhindern.» Die «Bio-Kläranlage Zürichsee» hat dabei einen besonders grossen Durchsatz, so Thomas Posch: «Nur gerade ein Jahr und zwei Monate beträgt die theoretische Füllzeit des Zürichsees, in der Zeit hat sich also das Wasser des Sees vollständig erneuert.» Aber selbstverständlich, so betonen die Forscher, sei die Reinigungsleistung der eigentlichen, technischen Kläranlagen für den Zürichsee absolut unersetzlich.

Die Methoden der Mikrobiologinnen und Mikrobiologen an der Limnologischen Station sind heute vor allem durch die Hightech-Mikroskopie und die Molekularbiologie geprägt. Jakob Pernthaler hat, wie er sagt, «Jahre seiner Jugend verschwendet», um Methoden zu entwickeln, mit denen Bakterienarten aufgrund ihrer Abstammung und mit Hilfe spezifischer Gensonden identifiziert und quantifiziert werden können – ohne sie vorher isolieren zu müssen. «Gewässerbakterien sehen sich alle sehr ähnlich, wir können sie aber je nach stammesgeschichtlicher Verwandtschaft verschieden markieren: ganz so, als ob wir Farben hätten, die spezifisch Igel rot und Hasen grün färben würden », illustriert er. Jakob Pernthaler ist es auch gelungen, grampositive Gewässerbakterien «mit viel Liebe zu bändigen» und sie ebenfalls gemäss ihrer Abstammung zu färben.

Auch die neue Forschergeneration steigt dann und wann in die Gummistiefel und wirft den Motor des kleinen Bootes der Limnologischen Station an, mit dem Ferdinand Schanz auf den See hinaus fährt. Jakob Pernthaler will bei den regelmässigen Messungen und Probenahmen allerdings zukünftig die Mikrobiologie stärker gewichten und so gleichsam dazu beitragen, «die Limnologie als moderne Disziplin in diesem Jahrhundert zu bewahren». Zum Beispiel interessiert Pernthalers Team, welche Mikrobenarten zu bestimmten Zeiten in hohen Dichten im Wasser zu finden sind oder welche Bakterien Umweltgifte abbauen. Ausserdem möchte der neue Direktor der Forschungsstation «interessante Leute» als Gastforscher nach Zürich holen, «um die hervorragende Infrastruktur der limnologischen Station international zugänglich zu machen». Neben dem Zürichsee will sich Jakob Pernthaler längerfristig auch anderen Ökosystemen widmen: etwa stark gefährdeten Gewässern in Osteuropa oder Südamerika. «Und ausserdem verbindet mich eine bislang unausgelebte heimliche Liebschaft mit den Schweizer Gebirgsseen», sagt er.