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Wenn Töne nach Vollrahm schmecken

Farben hören, Töne schmecken – Synästheten leben in einer sinnlichen Welt. Die Erforschung solcher skurriler Wahrnehmungen könnte mehr Wissen darüber zu Tage fördern, wie Lernen unser Hirn formt.

Roger Nickl

Das Bild über Gian Beelis Schreibtisch erinnert an konstruktive Malerei: eine bunte Ansammlung von 290 gleich grossen Rechtecken in den unterschiedlichsten Farben. Was aussieht wie ein Kunstwerk, ist in Tat und Wahrheit ein Produkt der Wissenschaft. Geschaffen wurde es von Testpersonen, die der Neuropsychologe untersucht hat. Beeli erforscht gemeinsam mit Lutz Jäncke, dem Leiter des Instituts für Neuropsychologie der Universität Zürich, eine skurrile Spielart der menschlichenWahrnehmung: die Synästhesie. Synästheten verfügen über erstaunliche Fähigkeiten. Ein Teil von ihnen sieht Töne, Buchstaben oder Wörter in bestimmten Farben, weil ein akustischer Reiz neben dem auditorischen Zentrum auch das Farb- Zentrum in ihrem Gehirn anregt. Die berühmte Pianistin Hélène Grimaud verfügt etwa über eine solche «Audition colorée», die Fähigkeit zum Farben-Hören oder eben Töne-Sehen. Wenn die französische Tastenvirtuosin ein Klavierkonzert interpretiert, zündet in ihrem Kopf ein wahres Feuerwerk der Sinne: Denn Grimaud nimmt Klänge nicht nur akustisch, sondern auch als farbige Formen wahr. Auch Alexander Skrjabin hatte eine solche Begabung. Für den russischen Komponisten waren bestimmte Töne und Tonarten mit ganz spezifischen Farben verknüpft.

Synästhetische Wahrnehmung beschränkt sich aber nicht nur auf eine Koppelung von Hören und Sehen. Das zeitliche «Zusammenfühlen » zweier Sinneseindrücke aufgrund eines einzigen Reizes – nichts anderes meint der Begriff «Synästhesie» – wurde in der wissenschaftlichen Literatur in den verschiedensten Spielarten beschrieben. So dokumentierten Beeli und Jäncke 2005 in einem aufsehenerregenden Beitrag in der Wissenschaftszeitschrift «Nature» den Fall einer Zürcher Flötistin. Für Elisabeth Sulser ist das Musizieren im wahrsten Sinne des Wortes Geschmackssache: Denn Tonintervalle schmecken für die junge Frau ganz unterschiedlich. Eine Dur-Terz beispielsweise ist süss, eine Moll-Terz salzig und eine grosse Sexte hat den Geschmack von Vollrahm.

EIGENWILLIGES DENKORGAN

«Die Synästhesie ist ein faszinierendes Phänomen, und sie ist ein interessantes Modell dafür, wie unsere Wahrnehmung funktioniert», sagt Neuropsychologe Lutz Jäncke. «Unser Gehirn kann eine lebhafte Wahrnehmung von etwas generieren, das in der Aussenwelt gar nicht vorhanden ist.» Von den Rätseln der synästhetischen Wahrnehmung liessen sich bereits ältere Forschergenerationen begeistern. Obwohl das Wahrnehmungsphänomen bereits früher beobachtet wurde, prägte erst der französische Arzt Alfred Vulpain in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Begriff «Synästhesie ». Er beschrieb damit in seinen «Leçons sur la physiologie» das damals bekannte Syndrom der «sensations associées». Wer so empfand, galt allerdings als verrückt und reif für eine Behandlung.

Der Ruch des Krankhaften haftete der Synästhesie noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts an. Mittlerweile ist sie von der Forschung aber rehabilitiert worden. Heute gilt sie als für die «Betroffenen» unproblematische, psychische und physiologische Besonderheit. Und mehr als das: als ausgefallene Spielart der menschlichen Wahrnehmung umgibt die Synästhesie eine Aura des Künstlerischen und Kreativen. Auch deshalb hat sie sich zu einem die breite Öffentlichkeit faszinierenden medialen Modethema gemausert. Zeugen dieses Booms sind populärwissenschaftliche Buchtitel wie «Welche Farbe hat der Montag?» oder «Farbe hören, Töne schmecken. Die bizarre Welt der Sinne», die in grossen Auflagen verkauft werden.

So schillernd das Phänomen ist, die Wissenschaft weiss immer noch wenig darüber, wie synästhetische Wahrnehmung im Kern funktioniert. «Es gibt bislang nur Hypothesen», sagt Lutz Jäncke. Anatomische Besonderheiten, bei denen bestimmte Hirnregionen speziell miteinander verkabelt sind, könnten dafür verantwortlich sein. Oder – wie die Hyper-Binding- Theorie besagt – möglicherweise werden bestimmte Hirnregionen durch physiologische Kopplungsprozesse synchronisiert. Bewiesen ist aber bislang noch nichts. Auch die Frage, ob synästhetische Wahrnehmung genetisch bedingt ist, oder ob sie ein Produkt von Erfahrung und Lernen ist, haben die Wissenschaftler erst ansatzweise beantwortet.

Gerade diese letzte Frage hat Gian Beeli und Lutz Jäncke in einer aktuellen Synästhesie-Studie interessiert. Die beiden Wissenschaftler wollten wissen, ob wir die Fähigkeit zu synästhetischen Wahrnehmungen durch Erfahrung lernen oder ob sie uns quasi in die Wiege gelegt wird. Sie untersuchten deshalb 19 Testpersonen, bei denen das Hören von Zahlen, Buchstaben oder Wörtern mit einer individuellen Farbwahrnehmung verbunden ist. «Die Verknüpfung von Buchstaben oder Zahlen mit Farben ist die am weitesten verbreitete Form der Synästhesie», erklärt Gian Beeli, «sie ist deshalb am besten für Gruppenstudien geeignet.»

Um die synästhetische Wahrnehmung der Testpersonen zu überprüfen, sprach Gian Beeli den 11 synästhesiebegabten Frauen und 8 Männern die 26 Buchstaben des Alphabets und die Zahlen von eins bis neun laut vor. Anschliessend mussten sie die Farben, die sie vor ihrem inneren Auge sahen, am Computer möglichst genau reproduzieren, indem sie eine von über 16 Millionen zur Verfügung stehenden Farben auswählten. Zustande kamen so 19 ganz unterschiedliche Farbreihen, die am Ende der Untersuchung zusammengestellt und ausgedruckt das «Kunstwerk» ergaben, das nun über Gian Beelis Arbeitspult hängt. Das Bild macht die Unterschiede augenfällig: Ein «E» kann je nach Testperson rot, grün, gelb oder blau, ein «Y» hellgelb, lindgrün oder zartlila sein, und das Farbspektrum bei der Zahl «3» reicht von olivgrün bis himmelblau. «Synästhetische Wahrnehmungen sind ganz individuell», erklärt Gian Beeli, «sie sind aber auch absolut stabil und verändern sich im Laufe des Lebens nicht.» Dies bestätigte sich auch in einer Wiederholung des Experiments nach drei Monaten – alle Testpersonen gaben bei einem erneuten Test exakt die gleichen Farben wie beim ersten Mal an.

So individuell wie die synästhetischen Wahrnehmungen scheinen, sind sie aber nicht. «Obwohl jede Person ihren eigenen Farbcode hat, fielen mir bei der Analyse der Testergebnisse auch Regelmässigkeiten auf», erzählt Gian Beeli, «was sich zeigte: Je häufiger ein Buchstabe im Sprach- und Schriftgebrauch vorkommt, um so farbiger wird er von den Testpersonen wahrgenommen.» Das «E», das in der deutschen Sprache mit Abstand am meisten vorkommt, wurde von allen untersuchten Synästheten deutlich farbiger empfunden als etwa das viel seltener gebrauchte «Y». Bei den Zahlen wiederum wurde die oft gebrauchte «1» wesentlich heller wahrgenommen als die seltenere «8». Möglich wurden diese Analysen durch das HSLSystem, eines der Farbkodierungssysteme, mit denen Computer arbeiten. Eine Farbe im HSLSystem wird mit Hilfe von Werten für den Farbton, die Sättigung und die Helligkeit definiert. Mittels dieses Systems konnten die Forscher die letztlich sehr subjektive Farbempfindung in Zahlen überführen, die sich verrechnen liessen. «Wir konnten so eine klare Korrelation zwischen der Häufigkeit der Buchstaben und ihrer Farbigkeit beziehungsweise der Häufigkeit der Zahlen und ihrer Helligkeit zeigen», sagt Beeli. Für die Zürcher Forscher deuten die Resultate klar darauf hin, dass Erfahrung eine wichtige Rolle bei der Entwicklung synästhetischer Wahrnehmungen spielt. Unterstützt wird dieser Befund durch eine weitere Auffälligkeit: Die Null wurde im Test von allen untersuchten Synästheten weiss, grau oder schwarz, also farblos, wahrgenommen. «Die Vermutung liegt hier nahe, dass ‹Null› mit der Bedeutung von ‹Nichts› in Verbindung gebracht und deshalb farblos wahrgenommen wird», ist Gian Beeli überzeugt. Und was «Nichts» meint, lernen wir durch Erfahrung.

MEHR ALS EINBILDUNG

«Farben-Hörer» bilden sich ihre Wahrnehmungen nicht einfach ein. Dies haben mittlerweile verschiedene Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren gezeigt. Deutlich wurde dabei, dass im Gehirn von solchen Synästheten tatsächlich das auditorische und das Farbareal aktiviert werden. In welchem zeitlichen Verlauf dies allerdings geschieht, wurde bislang nicht untersucht. Lutz Jäncke und Gian Beeli gingen dieser Frage deshalb in einer zweiten Synästhesie-Studie nach. «Wir wollten herausfinden, ob die beiden Hirnareale simultan aktiviert werden oder ob es sequenzielle Verläufe gibt, so dass die Aktivierung eines Gebietes erst eine Reaktion in einem zweiten hervorruft», erklärt Lutz Jäncke. Von der Studie erhofften sich die Zürcher Forscher weitere Hinweise auf den Zusammenhang von Synästhesie, Erfahrung und Lernen.

Beeli und Jäncke unterzogen deshalb 16 «Farben-Hörer» einem Test: Ab Band sprach eine weibliche Stimme den Probanden Buchstaben, Worte – etwa «Kugel», «Format» oder «Forum» – und Fantasieworte vor – beispielsweise «dipa», «tifa» oder «peta». Gleichzeitig massen die Neuropsychologen mit Hilfe der Elektroenzephalografie die elektrische Aktivität im auditorischen und im Farbareal der Versuchsteilnehmer. Was sich zeigte: Die vorgesprochenen Buchstaben und Worte aktivierten nach rund 120 Millisekunden schon sehr früh und etwa gleichzeitig wie im auditorischen Kortex das Farbzentrum im Kopf der Synästheten. Das heisst: Sowohl der Hör- als auch der Farbeindruck stellen sich reflexartig und sozusagen simultan ein. Sollte es sich nun tatsächlich erweisen, dass die Fähigkeit zum «Farben- Hören» grösstenteils angelernt ist, hätte diese Erkenntnis weitreichende Konsequenzen. «Es würde bedeuten, dass wir durch Lernen auch auf grundlegende, automatisch funktionierende Module des Hirns einwirken können», spekuliert Neuropsychologe Jäncke, «das wäre eine bahnbrechende Entdeckung.»

Mit ihrer Forschung nähern sich Beeli und Jäncke Schritt für Schritt dem Rätsel der Synästhesie an. Momentan betreten die Wissenschaftler mit einer neuroanatomischen Studie forscherisches Neuland. Ziel der Untersuchung ist es, herauszufinden, ob im Hirn von «Farben- Hörern» besondere Nervenbahnen zwischen dem auditorischen und dem Farb-Areal bestehen. Auch hier interessiert Jäncke vor allem der Zusammenhang von Erfahrung und Lernen: «Sollten wir solche speziellen Verbindungen ausfindig machen und belegen können, dass sie durch intensives Lernen entstanden sind, wäre das natürlich revolutionär», meint er. Noch sind die beiden Neuropsychologen mit der Auswertung der Daten beschäftigt. Aber auch wenn sie keine spezifischen Verkabelungen in den Gehirnen von Synästheten finden könnten und die Revolution ausbleiben sollte, ist für Gian Beeli klar: «Ein negativer Befund hätte auch seine positive Seite.» Man müsste die Hypothese einer direkten Verbindung zwischen den beteiligten Hirnarealen verwerfen – und die Versuche, das Geheimnis der Synästhesie zu lüften, müssten in eine neue Richtung gehen.