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Imaginäre Städte

Historische Stadtdarstellungen sind Schaufenster auf vergangenes urbanes Leben. Ein grossangelegtes Forschungsprojekt zeichnet nun erstmals die Entwicklung solcher Städtebilder in der Schweiz nach.

Von Roger Nickl

Wie ein imaginäres Luftschiff liess Jacopo de’ Barbari im Jahre 1500 seinen Geist in die Höhe schweben. Von dort aus, aus der Vogelschauperspektive, zeichnete der Künstler ein völlig neues, so noch nie gesehenes Bild seiner Stadt Venedig. In einer majestätischen Schlangenlinie zieht der Canale Grande eine von Prachtbauten gesäumte Schneise durch das Häusergewirr und mündet – in der Ferne – schliesslich ins offene Meer. Barbaris Meisterwerk setzte damals neue Massstäbe in der Wahrnehmung und in der künstlerischen Darstellung von Städten – und es lancierte einen neuen Trend. In der Folge entstand in Europa eine Flut solcher so genannter Vogelschauveduten – darunter auch der berühmte Plan der Stadt Zürich, den Iosias Murer 1576 schuf. Für die Betrachter des 16. Jahrhunderts waren solche Bilder wohl der Inbegriff für künstlerische Vorstellungskraft und technische Raffinesse. Sie liessen die Welt, in der man lebte, in einem neuen Glanz erstrahlen. Stadtveduten hatten aber auch eine ganz praktische Seite: Sie waren Vorgänger von Stadtplänen und halfen etwa Steuerbeamten, ihre Klienten im Gassengewirr aufzuspüren.

VON KUNSTWERKEN LERNEN

Nicht nur die Menschen in der Renaissance begeisterten sich für solche Stadtdarstellungen, auch die Historiker und Kunsthistoriker von heute sind von diesen Kunstwerken fasziniert. Für sie sind sie wertvolle Quellen, die über die sozialen Verhältnisse, demographischen Entwicklungen und über den städtischen Alltag in der Vergangenheit berichten und somit vorhandene Textquellen und Dokumente ergänzen. Bernd Roeck von der Universität Zürich erforscht schon seit etlichen Jahren die Entwicklung von Städten in Europa vor allem in der Frühen Neuzeit. Und er analysiert Bilder und Kunstwerke als historische Zeugen der Geschichte. «Kunst ist das grösste Symbolsystem der Menschheit, da gibt es viel zu lernen», sagt Roeck, «bis vor kurzem wurde diesen Quellen aber viel zu wenig Beachtung geschenkt.» Ein Plädoyer für diese Sicht der Dinge gab der Historiker bereits 2004 in seinem Buch «Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit».

In einem aktuellen, vom Nationalfonds unterstützten Projekt ist Bernd Roeck und ein rund sechzigköpfiges Team von Historikern und Kunsthistorikern nun damit beschäftigt, eine Ikonographie der Schweizer Stadt zu erarbeiten. Ziel ist es, alle bildlichen Darstellungen von über 40 Deutschschweizer sowie von rund 20 Städten in der Romandie und drei Städten im Tessin, die zwischen dem 15. bis zum 19. Jahrhundert entstanden sind, zu sammeln, zu sichten und zu interpretieren. Dazu gehören Gemälde und Grafiken genauso wie Fotografien. Obwohl sich Schweizer Stadthistorikerinnen und -historiker immer wieder in kleineren Studien mit solchen Bildquellen auseinandergesetzt haben, fehlt bislang eine nationale Bestandesaufnahme, die erst einen Vergleich der Stadtbilder und ihrer Entwicklung in den verschiedenen Sprachregionen und Kulturräumen möglich macht. Die Recherche könnte, so hofft Bernd Roeck, auch neue, bislang unbekannte Stadtdarstellungen aus den Tiefen der Archive ans Licht heben.

Die Forscher wollen aber auch nachzeichnen, wie sich die visuelle Inszenierung von Städten in der Schweiz verändert hat. Einer Entwicklung, die von frühen Symbolen, wie sie etwa auf Siegeln zu finden sind, über Vogelschauveduten und die so genannte Kavalierperspektive bis hin zur romantischen Sicht der Stadt in ihrer natürlichen Umgebung und zu frühen Fotografien führt. Anhaltspunkte dazu hat Bernd Roeck bereits in den 90er-Jahren gesammelt: Damals koordinierte er im Rahmen eines grossen europäischen Projekts eine deutsche Arbeitsgruppe, die sich mit dem «Bild der Stadt in der Neuzeit, 1500–1800» – so der Titel des 1998 erschienenen Buches – beschäftigte.

SCHAUFENSTER AUF DIE WELT

In der frühen Neuzeit wurde die Malerei revolutioniert: Mit der Erfindung der Zentralperspektive wird das Bild zum Schaufenster auf die Welt. Trotz dieses neuen Realismus in der Kunst waren Stadtdarstellungen nie Abbildungen der Wirklichkeit. Sie sind im Gegenteil immer Inszenierungen: schöne und prächtige Repräsentationen eines städtischen Gemeinwesens, das sich im besten Licht zeigen will. «Wir sehen in diesen Bildern, wie sich die Menschen etwa des 16. oder 17. Jahrhunderts eine Stadt vorgestellt haben – wie sie sie sehen wollten», sagt Bernd Roeck, «indem wir diese Stadtbilder lesen, können wir viel über die histoire imaginaire lernen.» In Murers Stadtplan aus dem 16. Jahrhundert wird das Grossmünster beispielsweise besonders deutlich hervorgehoben. «Man zeigt sich als christliche Stadt, als Gottesstadt », erklärt der Historiker, «viele dieser alten Darstellungen, auch der Murer-Plan, deuten auf ein sakrales Verständnis der Stadt als Heilsgemeinschaft hin.» Ebenfalls fragen kann man sich, weshalb im Murer-Plan die Schiffsbrücken auf der Limmat so aufwendig und detailliert gestaltet sind. «Heute würde man technischen Einrichtungen wohl kaum so viel Platz einräumen », meint Bernd Roeck, «damals zeigte man aber mit Stolz diese Wunderwerke der Technik und inszenierte sich als moderne Stadt.»

Aus den aktuellen Forschungsarbeiten soll schliesslich ein Buch entstehen: Neben den Beiträgen, die den über sechzig Schweizer Städten gewidmet sind, wollen die Wissenschaftler aufzeigen, wie sich soziale und kulturelle Rahmenbedingungen auf die Darstellungen von Städten auswirkten. Gibt es etwa eine spezifisch katholische oder eine protestantische Inszenierung von Stadt? Wie setzen sich wiederum Patrizierstädte wie Bern oder Luzern in Szene? Und wie die Zunftstadt Zürich? Zudem: Wie wirkt sich der Transfer von Techniken und Ideen aus Deutschland, Italien und Frankreich auf die Stadtikonographie in der Schweiz aus. Solche Fragen wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beantworten. «Wir möchten letztlich herausfinden, ob es eine spezifisch schweizerische Stadtikonographie gibt», sagt Bernd Roeck.

HONGKONG ODER ZÜRICH

Die Metropolen von heute ziehen immer mehr Menschen an: Während 1950 noch rund 70 Prozent der Weltbevölkerung auf dem Land lebten, wohnten 2006 bereits über 50 Prozent in einer Stadt. Im Zuge der Globalisierung beginnen sich die urbanen Lebensräume zudem immer ähnlicher zu werden. «Heute kann man in Hongkong mehr oder weniger dasselbe einkaufen, wie in Zürich», meint Bernd Roeck. Die Folgen dieser Entwicklung liegen für den Historiker auf der Hand: «Weil die Lebensverhältnisse weltweit zunehmend nivelliert werden, wird die Frage nach der eigenen Identität immer wichtiger und die Menschen beginnen, sich wieder vermehrt für ihre Geschichte zu interessieren.» Das geplante Buch, das 2009 erscheint und sich an ein breites Publikum wendet, reagiert auf dieses Bedürfnis. Es möchte den Bewohnern der Schweizer Städte ein Stück ihrer Geschichte und somit ihrer Identität an die Hand geben. «Das Buch soll die Entwicklung der Schweizer Städte vor Augen führen und vielleicht auch davon warnen, die alten Städte zu zerstören», sagt Bernd Roeck, «Architekten tun dies ja zuweilen nachhaltiger als Kriege.»