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Wenn Demokratie gefährlich wird

Die Demokratie mag die beste aller Staatsformen sein. Demokratisierungsprozesse destabilisieren jedoch oft die bestehende Ordnung und können zu Bürgerkriegen, Genoziden und dem Auseinanderfallen von Staaten führen.

Von Thomas Gull

Die Demokratie ist aus westlich-aufgeklärter Sicht die bestmögliche aller Staatsformen. Sie sorgt dafür, dass wir nicht besser regiert werden, als wir es verdienen (G.B. Shaw), und Demokratien führen in der Regel gegeneinander keine Kriege. Immanuel Kant erklärte diesen Sachverhalt unter anderem damit, dass sich Wähler nur ungern selber in den Krieg schicken. Die Politikwissenschaft hat für die Beisshemmung demokratischer Staaten untereinander den Begriff des «Demokratischen Friedens» geprägt.

Der Erfolg des demokratischen Modells ist unbestritten, hat jedoch auch seine Schattenseiten. Dazu gehört der naive Glaube, Demokratie sei so universell beliebt und allgemein verträglich wie Coca-Cola und könne deshalb beliebig exportiert werden. Im Gegensatz zum amerikanischen Süssgetränk, das auf der ganzen Welt gerne getrunken wird und nur selten Beschwerden verursacht, ist die Demokratie mit Vorsicht zu geniessen. Das demonstrieren die USA mit ihrem desaströsen Feldzug im Irak auf eindrückliche Weise. Denn die Demokratie, oder präziser der Weg zu ihr, die Demokratisierung, birgt erhebliches Sprengpotenzial. Man übersieht nur allzu gerne, dass auch die Entstehung der westlichen Demokratien begleitet war von Bürgerkriegen und Revolutionen. Wie etwa dem Aufstand der amerikanischen Siedler gegen die englische Krone, der die erste moderne demokratische Verfassung der Welt erst möglich machte. Oder der Französischen Revolution, die zuerst Ludwig den XVI. und danach so manches andere der Ancien Régimes in Europa wegfegte, auch in der Schweiz.

ETHNISCHE SÄUBERUNGEN UND GENOZIDE

Demokratisierungsprozesse zeitigen auch in jüngster Vergangenheit höchst unterschiedliche Folgen. So verlief in Lateinamerika der Übergang von den Militärdiktaturen zu demokratischen Regierungen meist unblutig, und viele der Staaten Osteuropas verabschiedeten sich ohne allzu grosse Schwierigkeiten aus dem kommunistischen Zwangsverband. Andernorts hat der Demokratisierungsprozess hingegen zu Bürgerkriegen, ethnischen Säuberungen und Genoziden geführt und die staatliche Einheit gefährdet oder zerstört.

Weshalb gelingt die Demokratisierung in einigen Fällen und hat in anderen katastrophale Auswirkungen? Diese Frage lotet das Projekt «Democratizing Divided Societies in Bad Neighborhoods » des Nationalen Forschungsschwerpunktes NCCR Democracy aus. Von der Universität Zürich beteiligt sich unter anderem Simon Hug, Professor für Methoden der Politikwissenschaft, am Projekt, das von Lars-Erik Cederman, Professor für Internationale Konfliktforschung an der ETH Zürich, geleitet wird.

Das Projekt basiert auf der Erkenntnis, dass «Demokratisierungsprozesse zuerst einmal zu einer Destabilisierung der bestehenden Ordnung führen und nicht immer friedlich verlaufen », wie Hug festhält. Die Einsicht stellt die optimistische Haltung in Frage, die noch in den 1990er-Jahren vorherrschte: «Die Politologen gingen davon aus, dass es friedlich wäre auf dieser Welt, wenn alle Staaten demokratisch würden», erklärt Hug. Eine Heilserwartung, die im Einklang stand mit Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte. Für Fukuyama gab es nach der Überwindung des Kommunismus auf dieser Welt keine Gegensätze mehr. Höchste Zeit für das Goldene Zeitalter also, das Paradies auf Erden, mit Frieden, Demokratie und freier Marktwirtschaft überall und bis in alle Ewigkeit.

Doch das waren die euphorischen frühen 90er-Jahre, das war vor 9/11. Heute weiss man: Die Verhältnisse sind nicht so, zumindest nicht so einfach. Das musste auch Fukuyama feststellen, als die Geschichte selbst seine These widerlegte. Die Politologen sehen den Gang der Weltgeschichte heute deshalb in einem etwas nüchterneren Licht. Das grosse Wort vom Paradigmenwechsel mag Hug zwar nicht hören, er stellt aber fest: «Die Perspektive hat sich verändert: Demokratisierung ist sicherlich nach wie vor ein erstrebenswertes Ziel. Doch man muss sich bewusst sein, dass der Weg dorthin nicht einfach ist.» Insbesondere in Ländern mit ethnischen Spannungen könne die Demokratisierung Konflikte auslösen. Der Beispiele sind viele: das ehemalige Jugoslawien, die ehemaligen Sowjetrepubliken im Kaukasus, die Region der grossen Seen in Afrika oder der Mittlere Osten etwa.

Solche Fälle schwieriger Demokratisierungsprozesse untersuchen Hug und seine Kollegen. Sie wollen herausfinden, welche Mechanismen die Konflikte auslösen. Dazu wurden unter anderem internationale Experten zu Gesprächen eingeladen, mit denen die Lage in diesen vier Regionen erörtert wurde. Die Erkenntnisse sind in das Paper «Linking Ethnic Conflict and Democratization. An Assessment of Four Troubled Regions» eingeflossen (Autoren Judith Vorrath, Lutz Krebs, Dominic Senn). Simon Hug fasst die provokative These des Aufsatzes so zusammen: «Die Demokratisierung kann die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Staat destabilisiert wird oder Krieg führt.»

Das tönt ziemlich waghalsig, vor allem für all jene, die bisher mit Kant der Meinung waren, Demokratie sei eine Voraussetzung für den ewigen Frieden. Doch die These lässt sich bestens belegen, etwa mit dem Beispiel des früheren Jugoslawien. Für die Politologen sind die zuerst innerstaatlichen Auseinandersetzungen, die dann zu Bürgerkriegen, Genoziden und dem Auseinanderfallen Jugoslawiens führten, eine Folge des Demokratisierungsprozesses. Dieser stellte die Macht der alten kommunistischen Elite, repräsentiert unter anderem durch Slobodan Milosevic in Serbien und Franjo Tudman in Kroatien, in Frage. Milosevic und Tudman instrumentalisierten die ethnischen Spannungen, um die Wählerinnen und Wähler für ihr Lager zu mobilisieren. Milosevic etwa postulierte, Serbien werde gross sein oder nicht sein. «Ethnische Spannungen werden vielfach geschürt und inszeniert», fasst Hug zusammen, «sie sind das Resultat der Strategien von Eliten.»

DAS DESASTER IM IRAK

So weit, so unerfreulich. Doch unter welchen Bedingungen führen Demokratisierungen zu Konflikten? Und umgekehrt gefragt: Welches sind die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Demokratisierung? In ihrem Paper beschreiben Vorrath, Krebs und Senn drei Eigenschaften der Demokratisierung, die Konflikte auslösen können, und sie diskutieren drei Elemente, die zu einer erfolgreichen und friedlichen Demokratisierung beitragen.

Lutz Krebs analysiert für seine Dissertation das Verhalten der Eliten im Libanon und im Irak. Der Irak bietet sich als Beispiel an, um die von Vorrath, Krebs und Senn zusammengestellten Szenarien durchzuspielen. Erstens: Durch die Demokratisierung wird die politische Arena geöffnet, was neuen Akteuren die Möglichkeit gibt, sich am politischen Prozess zu beteiligen. Gleichzeitig können dadurch Gruppen, die bisher an der Macht waren, marginalisiert werden oder ganz verschwinden. Im Extremfall kann diese Entwicklung zu einem Kollaps der Zentralgewalt und damit zu einem Machtvakuum führen. Was im Irak passierte: Die bisherige Elite aus den Reihen der Sunniten wurde von den Amerikanern entfernt, die demokratische Arena geöffnet. Resultat: Ein unkontrollierter Machtkampf zwischen den verschiedenen ethnischen und politischen Gruppen, der faktisch zu einem Kollaps der Zentralmacht geführt hat.

Zweitens: Wahlen produzieren Gewinner und Verlierer. Gruppen, die in der demokratischen Ausmarchung den Kürzeren ziehen, könnten den Wahlausgang nicht akzeptieren und versuchen, ihre Ansprüche mit Waffengewalt durchzusetzen. Was im Irak passierte: Die Sunniten haben ihre Macht verloren und können auf Grund ihres relativ geringen Anteils an der Bevölkerung unter demokratischen Bedingungen höchstens auf eine proportionale Beteiligung an der Macht hoffen. Deshalb sabotieren sie den Demokratisierungsprozess.

Drittens: Der Ablauf der demokratischen Entscheidungsprozesse spielt eine wichtige Rolle. So hat sich gezeigt, dass es sich negativ auswirkt, wenn zuerst lokale oder regionale Wahlen abgehalten werden, bevor es zu nationalen Wahlen kommt, weil regionale Führer, die nicht an das nationale Gemeinwohl gebunden sind, mehr Legitimität geniessen als die noch nicht gewählten nationalen Führer. So geschehen im früheren Jugoslawien.

Was im Irak passierte: Nach dem Sturz des Hussein-Regimes zerfiel das Land faktisch in drei Teile, den kurdischen im Nordosten, den schiitischen im Süden und den sunnitischen im Zentrum. Es gab zwar nationale Wahlen, die Wahlergebnisse spiegeln aber nur die ethnische Spaltung der Bevölkerung.

Den drei wichtigsten Konfliktkatalysatoren stehen drei Voraussetzungen gegenüber, die zu einer erfolgreichen und friedlichen Demokratisierung beitragen. Erstens: Der Staat muss im Innern und nach aussen gefestigt sein. Lage im Irak: Das Land droht entlang der ethnischen Grenzen auseinanderzufallen. Zweitens: Die Regeln für den Übergang sind ausgehandelt worden zwischen den ehemaligen Machthabern und den Vertretern der demokratischen Opposition. Im Irak wurden die ehemaligen Machthaber von den Amerikanern vertrieben, ohne dass es eine Planung für den Übergang zu neuen geordneten politischen Verhältnissen gab. Drittens: Der Übergang ist ein Kompromiss zwischen den ehemaligen und den neuen Machthabern. Die Unterstützung der früheren Elite kann gewonnen werden, indem sie an der Macht beteiligt wird. Im Irak wurden die ehemaligen Machthaber durch den Krieg gestürzt, die Sunniten sehen sich marginalisiert.

Die Voraussetzungen für eine nachhaltige Demokratisierung sind im Irak denkbar schlecht. Im Moment herrschen im Land chaotische Zustände und ein Ende scheint nicht in Sicht zu sein. Das werde sich auch nicht so schnell ändern, ist Krebs überzeugt: «Weil überhaupt noch nicht absehbar ist, wie sich der Machtkampf entwickelt, setzen alle Parteien alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ein, um ihre Positionen zu stärken.» Im Gegensatz dazu seien im Libanon die politische Macht zwischen den ethnischen Gruppen bereits aufgeteilt und das Land trotz grosser ethnischer Spannungen einigermassen stabil.

Worauf laufen die im Rahmen des NCCRProjektes betriebenen Analysen hinaus? Gibt es bald praktische Anweisungen, wie Demokratisierungen am besten durchzuführen seien? Wohl kaum. Für Hug ist klar, dass es so etwas wie ein einziges Rezept für das Gelingen von Demokratisierungsprozessen nicht gibt und nicht geben wird: «Wir möchten zuerst einmal herausfinden, wie die Prozesse regionalspezifisch ablaufen. Wahrscheinlich wird man kulturelle, gesellschaftliche und ökonomische Eigenheiten weit stärker berücksichtigen müssen als bisher.» Deshalb werde man am Ende des Tages wahrscheinlich keine grosse, allgemein gültige Theorie aufstellen können für den friedlichen Ablauf von Demokratisierungsprozessen, sagt Hug, «wir möchten aber zu gewissen Generalisierungen kommen und diese in die öffentliche Debatte einbringen».