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Molekulare Türsteher

Raimund Dutzler erforscht Ionenkanäle. Mit seiner Forschung will der Strukturbiologe nicht nur die Biochemie-Lehrbücher neu schreiben, sondern auch Grundlagen schaffen für Therapien verschiedenster Krankheiten.

Von Ruth Jahn

OHNE IONENKANÄLE würde in den Zellen ein Tohuwabohu herrschen wie in einer angesagten Disco ohne Türsteher. Ionenkanäle sind Poren in der Hüllmembran der Zellen. Sie schleusen selektiv Ionen – kleine Salzteilchen mit elektrischer Ladung wie Natrium, Kalium oder Chlorid – in die Zellen hinein oder aus den Zellen heraus. «Sehen, Gehen, Riechen, Tasten, Denken: All das wäre ohne Ionenkanäle nicht möglich», sagt Raimund Dutzler, vom Biochemischen Institut. Vermutlich würden weder Pflanzen noch Tiere auch nur einen Tag ohne Ionenkanäle überleben. Vor einigen Jahren rätselten Biochemiker noch, wie es möglich ist, dass zum Beispiel relativ grosse Kaliumionen die Hüllmembran der Zellen passieren, während andere Ionen wie die etwas kleineren Natriumionen abgehalten werden. Es muss an den Zellgrenzen Türsteher geben, die eine Art Gesichtskontrolle vornehmen, so postulierten Forscher bereits im letzten Jahrhundert. Heute kennt man die Ionenkanäle, weiss, dass sie aus Eiweissen aufgebaut sind und auch dass sie hochspezialisiert sind: Ionenkanäle lassen nur ganz bestimmte Salzteilchen in eine Zelle hinein oder aus ihr heraus. Das Signal zum Öffnen oder Schliessen erhalten sie durch elektrische Signale oder durch Botenstoffe, die an genau definierten Stellen des Kanals andocken.

Das grosse Aha-Erlebnis hatte die Biochemie Ende der Neunzigerjahre: Der Neurobiologe Roderick MacKinnon von der New Yorker Rockefeller University, in dessen Team Raimund Dutzler seine Post-doc-Zeit verbrachte, konnte seinen Kollegen erstmals die Struktur eines Kaliumkanals in atomarer Auflösung präsentieren. 2003 wurde Mac- Kinnon hierfür mit dem Nobelpreis für Chemie geehrt. «Ein Meilenstein der Biochemie», sagt Raimund Dutzler: «Jahrzehntelang hatte man eine Methode herbeigesehnt, die es erlaubt, sich die Ionenkanäle Atom für Atom anzuschauen.» Mac- Kinnons Strukturanalyse war schliesslich alles andere als l'art pour l'art: Schnell machte sie den Forschern das Funktionieren der molekularen Türsteher klar. «Anhand der Kaliumkanal-Strukturen liess sich relativ einfach darauf schliessen, warum diese Kanäle nur Kalium-Ionen durch die Zelle schleusen und wie sie dies genau tun», so Dutzler.

Die Türsteherfunktion der Ionenkanäle ermöglicht so wichtige physiologische Vorgänge wie den Transport von Ionen, die Kontrolle des Zellvolumens und des pH-Werts in den Zellen oder die elektrische Signalverarbeitung. Seit seiner New Yorker Zeit beim Nobelpreisträger MacKinnon hat sich Raimund Dutzler der Erforschung der Chloridkanäle verschrieben. Sie helfen zum Beispiel in der Niere mit, die Rückresorption von Salzen und Wasser vom Urin ins Blut zu bewerkstelligen. So wird die Menge des ausgeschiedenen Urins und auch der Blutdruck reguliert. In speziellen Zellen im Knochen sorgen die Chloridkanäle für einen gesunden, kontrollierten Abbau von Knochengewebe, ohne den jedes Wachstum unmöglich wäre. «Der elektrische Strom, der mit diesem Ionenfluss entsteht, ist auch für die Datenverarbeitung in unserem Gehirn und für die Bewegung von Muskeln zentral», erläutert Raimund Dutzler. Wie wichtig die molekularen Türsteher sind, wird auch deutlich, wenn deren gestrenge Kontrolle an den Zellgrenzen ausfällt: Vererbte Gendefekte etwa können dazu führen, dass die Kanäle zur falschen Zeit sperrangelweit offen stehen, dass sie dauerhaft verriegelt sind oder dass kaum noch Teilchen passieren können.

Ein Beispiel dafür ist die erbliche Myotonie. Dieser Muskelkrankheit liegt ein Fehler im genetischen Bauplan der Chloridkanäle zugrunde. Die Kanäle lassen zu wenige Chlorid-Ionen durch die Hüllmembran der Zelle. Das bringt auch die elektrische Spannung zwischen Zellinnerem und -äusserem durcheinander. Die Folge ist eine elektrische Übererregbarkeit der Muskeln: «Bei den Betroffenen führen Nervenimpulse nicht zu einer kurzen Kontraktion der Muskelfasern, sondern zu einer längeren Anspannung. Diese äussert sich in einer wiederkehrenden Steifheit von Arm, Beinoder Gesichtsmuskeln, die einige Minuten dauern kann», sagt Raimund Dutzler. Nicht nur die Muskulatur, auch das Gehirn ist darauf angewiesen, dass die Chloridkanäle gut funktionieren: Kürzlich wurde entdeckt, dass gewisse Epilepsieformen auf den fehlerhaften Bauplan von Chloridkanälen in der Membran von bestimmten Nervenzellen zurückzuführen sind. Die elektrischen Ströme in den Nerven breiten sich dabei unkontrolliert aus – es kommt zu epileptischen Anfällen.

2003 wurde Dutzler für eine Assistenzprofessur nach Zürich berufen. Seither hat der Wissenschaftler seine Forschung über die Struktur und die Funktionsweise von Chloridkanälen mit einem sechsköpfigen Team fortgesetzt und ausgebaut. Wie MacKinnons Strukturanalysen hat auch Raimund Dutzlers Forschung zu wissenschaftlichen Aha-Erlebnissen geführt: «Wir konnten anhand von bakteriellen Chloridkanälen zeigen, wie Chlorid- Ionen Zellgrenzen überwinden», sagt er, «die negativ geladenen Ionen werden in den Chloridkanälen dazu gebracht, ihre Wasserhülle, von der sie immer umgeben sind, vorübergehend abzustreifen. Dabei gehen Teile des Kanals – im so genannten Selektivitätsfilter – eine lose Bindung zu dem Ion ein und täuschen so eine wässrige Umgebung vor», erläutert der Strukturbiologe. Der Selektivitätsfilter lockert diese lose Bindung mit dem Chlorid-Ion erst wieder, wenn es auf der anderen Seite des Kanals ankommt: Dort wird das Ion dann wieder von Wasser umgeben. Dass die Kanäle nur Chlorid durchlassen, liegt an der Geometrie des Selektivitätsfilters, der die Wasserhülle um das Ion perfekt imitiert. Andere Fragen im Zusammenhang mit Chloridkanälen können die Forscher derzeit noch nicht beantworten: Vor kurzem hat Dutzlers Gruppe etwa herausgefunden, wie ATP – ein Molekül, das in den Zellen als Energiespeicher dient – am inneren Teil von menschlichen Chloridkanälen bindet und wie es dabei den Ionentransport reguliert. Welche Rolle diese Regulation im Körper spielt, ist noch unbekannt. Auch die Frage, warum einzelne Chloridkanäle als simple Kanäle funktionieren, während andere eher zu den Pumpen zu zählen sind, die Energie verbrauchen und Chlorid-Ionen auch gegen ein Konzentrationsgefälle transportieren können, ist den Forschern noch ein Rätsel. «An beiden Fragestellungen arbeiten wir intensiv», sagt Raimund Dutzler.

Dutzlers Team untersucht die Struktur von Chloridkanälen zumeist anhand von verwandten bakteriellen Kanälen. Die Wissenschaftler lassen diese mit Hilfe von Gentechnik in Bakterien herstellen. «Ionenkanäle sind glücklicherweise in der Evolution gut konserviert, sie ähneln sich bei allen Spezies», sagt der Strukturbiologe. Seit kurzem versucht seine Gruppe aber auch menschliche Chloridkanäle in Hefezellen herzustellen. Dass die Kanäle in einer Membran stecken, macht die Sache für die Forscher nicht gerade einfach. «Membraneiweisse mit gentechnischen Methoden herzustellen, ist schwierig», sagt Raimund Dutzler, «es kann ein ganzes Jahr dauern, bis wir sehen, dass ein Bakterium oder eine Hefe ein bestimmtes Kanaleiweiss herstellt.»

Doch damit beginnt erst der wirklich schwierige Teil: die Aufreinigung des Eiweisses und die Suche nach Bedingungen, bei denen das Eiweiss kristallisiert. Denn nur im Kristall kann die räumliche Struktur des Kanaleiweisses mit Hilfe der Röntgenkristallographie aufgeklärt werden: Die Forscher beschiessen die Ionenkanal-Kristalle mit Röntgenstrahlen, um ein Streubild zu erhalten, anhand dessen sie die dreidimensionale Struktur der Kanäle berechnen. Diese Experimente führen die Strukturbiologen in der Schweizer Synchron Quelle (SLS) am Paul-Scherrer-Institut in Villigen durch – «eine der weltbesten Einrichtungen für röntgenkristallographische Untersuchungen », freut sich Raimund Dutzler.

«Hat man dann das ganze Molekül in seiner Anordnung vor sich, ist das ein wunderbarer Moment», schwärmt der Wissenschaftler. Um gleich wieder einzuschränken: «Die Struktur des Kanals erklärt zwar vieles, aber nicht alles.» Deshalb macht sein Team auch funktionelle Experimente: Die Forscher arbeiten etwa mit Eizellen des Krallenfroschs: Sie bringen in die Eizellen der Frösche genetisch modifizierte Baupläne von Chloridkanälen ein. Fehlt in diesen Bauplänen dann die Anweisung für eine bestimmte – strategisch wichtige – Aminosäure, schliesst der Kanal nicht. Ob die Chloridkanäle funktionieren, lässt sich dabei gut anhand des Stromes messen, der bei der Bewegung der Ionen über die Zellmembran fliesst. Dank der 1991 mit dem Nobelpreis augezeichneten Patch- Clamp-Methode sind solche Strommessungen gar bei einzelnen Kanälen möglich.

Raimund Dutzlers Erkenntnisse über Struktur und Funktion der Chloridkanäle könnten – wie diejenigen seines Ex-Chefs Roderick MacKinnon – bald Eingang in die Biochemielehrbücher finden. «Die Ionenkanalforschung ist ein neues Gebiet in einer aufregenden Phase», sagt Raimund Dutzler. Mit seiner Arbeit möchte er auch zum Verständnis verschiedener Krankheiten beitragen. Krankheiten, bei denen Genveränderungen zu defekten Chloridkanälen führen: «Wir hoffen, molekulare Angriffspunkte für Blutdrucksenker, Antiepileptika oder auch für Medikamente zu entdecken, die bei Osteoporose, dem Knochenschwund, helfen könnten.»