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Erkundungen in der Tabuzone

In den Wissenschaften spricht man selten über Gefühle. Am Collegium Helveticum schon. Seit zehn Jahren wartet das transdisziplinäre Denklaboratorium mit ungewöhnlichen Themen und Einsichten auf.

Von Tanja Wirz

«Unser neustes Werk!» Gerd Folkers, der Leiter des Collegium Helveticum, drückt der Besucherin ein schweres, schwarzes Buch in die Hände und blickt erwartungsvoll. Das Ding erinnert vage an einen kleinen Grabstein. Auf den zweiten Blick sind sogar einige Inschriften zu erkennen. «Archäologie der Zukunft» lautet der Titel; es handelt sich um die vor Kurzem erschienene Hauspublikation. Doch das ist nicht alles. «Tut es nichts?» fragt Folkers und nimmt das Buch wieder an sich, blättert darin, dreht es hin und her, und schliesslich knallt er es geräuschvoll zu. «Ah! Jetzt! Sehen Sie?» Auf dem Buch ist eine Inschrift zu erkennen: «IMMER» leuchtet es auf dem Einband.

Das Buch ist interaktiv: Dank Geräusch und Lagesensoren reagiert es auf seine Leser, indem es Worte oder Symbole auf dem Einband anzeigt. Sein Wortschatz ist allerdings ziemlich beschränkt, seine Aussagen orakelhaft. Es handelt sich um ein Experiment an den Grenzen zwischen wissenschaftlicher Publikationstätigkeit, Kunsthandwerk, Design und Computertechnologie.

In seiner Mischung aus ernsthaftem Anspruch und doppelbödigem Denkanstoss ist das sprechende Buch nicht untypisch für das Collegium Helveticum, eine sowohl von der Universität Zürich wie auch der ETH getragene Institution, die sich als Labor der Transdisziplinarität versteht. Gegründet wurde das Collegium 1997. Nach dem Vorbild des Wissenschaftskollegs in Berlin wollte die ETH Zürich ein Forum für den Dialog zwischen den Disziplinen einrichten. Erster Leiter war der Schriftsteller und ETH-Professor Adolf Muschg, gefolgt von der Wissenschaftsphilosophin Helga Nowotny.

Lauter Top-Leute

Bis 2004 bestand das Collegium aus einem Graduiertenkolleg für zehn junge Forschende der ETH und der Universität Zürich, die sich für interdisziplinäre Fragestellungen interessierten. Zusätzlich wurden Gäste aus Wissenschaft, Literatur und Kunst eingeladen. Grossen Wert legte man zudem auf die soziale Begegnung. Deshalb ass man nicht nur täglich miteinander, sondern bereitete auch die Mahlzeiten gemeinsam zu.

Heute wird in der Sternwarte nicht mehr gekocht. Doch das ist nur der geringste Teil des Wandels, der 2004 stattgefunden hat. Zum einen ist seither die Universität am Collegium beteiligt. Zum anderen wurden unter dem neuen Leiter Gerd Folkers, Professor für Pharmazeutische Chemie an der ETH, die Strukturen grundlegend geändert. Neu gibt es neben dem Leiter sechs Professoren, die von der Universität und der ETH als «Permanent Fellows» für fünf Jahre ans Collegium delegiert werden und dafür zu zwanzig Prozent von ihren sonstigen Pflichten freigestellt sind. Zur Zeit sind dies der Theologe Ingolf U. Dalferth, der Ökonom Ernst Fehr, der Historiker Jakob Tanner, der Forstingenieur Hans Rudolf Heinimann, der Neurowissenschafter Hanns Möhler und der Chemiker Reinhard Nesper.

Wöchentlich treffen sie sich mit allen Mitarbeitenden zum Forschungskolloquium und einmal im Monat zur Fellowsitzung. Idealerweise. «In Realität funktioniert das leider nicht so gut», seufzt Folkers. «Das sind alles Top-Leute. Und die sind eben auch anderswo sehr gefragt. Da haben unsere Veranstaltungen nicht immer Priorität.» Folkers will das nicht als Vorwurf verstanden wissen; es handle sich um ein strukturelles Problem.

Das Collegium ist zudem kein Graduiertenkolleg mehr. Vor 2004 konnten sich Nachwuchsforschende für einen zweisemestrigen Aufenthalt an der Sternwarte bewerben. Heute gibt es kein öffentliches Bewerbungsverfahren mehr, sondern die Fellows bringen ihre Leute selber mit. Und diese machen dann ihre gesamte Dissertation oder ihr Postdoc im Rahmen dieser Anstellung. Folkers erläutert: «Ein Aufenthalt von nur einem Jahr war für den naturwissenschaftlichen Nachwuchs problematisch. Die können es sich kaum erlauben, ein Jahr lang aus ihrem Institut wegzubleiben.»

Auch inhaltlich gab es Änderungen: Nicht mehr die Wissenschaftsanalyse steht im Vordergrund, sondern die konkrete Forschung. «Wir beschäftigen uns mit Fragen, die nicht von einer einzelnen Disziplin gelöst werden können», erläutert Folkers. Für die ersten vier Jahre wählten die Fellows das Thema «Die Rolle der Emotion: ihr Anteil bei menschlichem Handeln und bei der Setzung sozialer Normen». Folkers sagt: «Wir wollten über etwas nachdenken, wovon wir nichts verstehen. Über Emotionen dürfen Wissenschafter eigentlich gar nicht reden, denn theoretisch sollten wir ja stets völlig objektiv und emotionslos sein. Nur stimmt das natürlich überhaupt nicht.»

Kulturschocks bewältigen

Die Forschungsprojekte umfassen die vielfältigsten Fragestellungen.Um nur einige zu nennen: Beeinflusst die Vorstellung, die wir uns von uns selber machen, unser Schmerzempfinden? Wie wirkt sich die Rezeption von Kunst, Musik und Literatur auf unser Bewusstsein aus? Wie hat sich die Wahrnehmung von Gefährdungen historisch entwickelt? Welche Rolle spielen Gefühle beim Abwägen von Risiken? Wie hängen Sinneswahrnehmungen, neuronale Vorgänge und Bewusstsein zusammen?

Das interdisziplinäre Netzwerk am Collegium ermöglicht den Forschenden Austausch und bietet viel Anregung. Die Historikerin Daniela Saxer empfindet dies als grosse Bereicherung. Unter anderem auch, weil sich dabei die Grenzen der eigenen Forschung zeigen: «Man merkt, in was für einem riesigen Forschungsfeld man sich bewegt. Das lässt einen bescheidener werden: Man meint nicht mehr, mit seiner Arbeit die ganze Welt erklären zu können.» Die Schwierigkeit dabei ist, sich über die Grenzen der verschiedenen Fachkulturen hinweg überhaupt zu verständigen. Ein Beispiel: Anfangs diskutierten die Fellows mit einer gewissen Hilflosigkeit, wie Folkers erzählt, was die Geschichtsforschung eigentlich zur Wissenschaft mache, wo sie doch keine Experimente kenne. Das am Collegium nicht bloss geforderte, sondern auch stattfindende interdisziplinäre Gespräch unter gleichwertigen, etablierten Peers macht es möglich, solche ‹Kulturschocks› zu überwinden.

Ein offenes Haus, auch für Künstler

Der Dialog soll aber nicht nur zwischen den Disziplinen, sondern auch über die Grenzen der Wissenschaften hinaus geführt werden. Gerd Folkers: «Wir bemühen uns, ein offenes Haus zu führen.» Das spiegelt sich im umfangreichen öffentlichenVeranstaltungsprogramm, das sich an breite Personenkreise richtet. Und nach wie vor sind Künstler an der Sternwarte tätig: Comic-Autor Matthias Gnehm arbeitet an einem Buch über das Collegium als Forschungslokalität, und aktuell sind die beiden Schweizer Künstler Andres Lutz und Anders Guggisberg für ein Jahr Gastprofessoren. Sie machen die Schaukästen in der Eingangshalle der Sternwarte zum Kuriositätenkabinett. Auf einem grossen Wurzelstock etwa prangt die Widmung: «Herrn Dr. med. Heinz H. Knurrtasche in Dankbarkeit zugeeignet für seine unermüdlichen Verdienste im Kampf gegen die Ödemforschung». Ob die anderen angestaubten Materialresten in den Schaukästen – die Filzunterlagen, das verpilzte Holzstück – auch zur Installation der beiden gehören, bleibt noch zu ergründen.