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Schöner die Alpen nie blühten

Die globale Klimaerwärmung macht sich auch in den Alpen bemerkbar: die Gletscher schmelzen, die Schneegrenze steigt und die alpinen Pflanzen erobern sich Schritt für Schritt neue Lebensräume.

Von Thomas Gull

Am Ende der letzten Eiszeit reichte die Zunge des Morteratsch-Gletschers bis hinunter nach Pontresina. Jetzt zieht sie sich jedes Jahr zurück, hinauf zur Bernina-Gruppe, wo sie herkommt. Im Durchschnitt sind es zwischen 20 und 40 Meter pro Jahr, im Hitzesommer 2003 waren es sogar 75 Meter. Nach dem Rückzug kommt zum Vorschein, was die Eismasse in jahrtausendelanger Kleinarbeit zu Tale gefördert hat – Schutt, Geröll, manchmal Baumstämme und Leichen verunglückter Menschen. Doch die Steinwüste wird schnell von Pflanzen in Besitz genommen. Zuerst kommen Pionierpflanzen wie das Graue Zackenmützenmoos (Rhacomitrium canescens) und das Pohlmoos (Pohlia gracilis), dann folgen die Säuerlinge (Oxyria digyna) und das Fleischer’sche Weidenröschen (Epilobium fleischeri), die erste Fluren bilden. Schliesslich folgen Bäume und Sträucher, meist zuerst die Lärche (Larix decidua), die sich als Pionierin schon sehr früh festsetzt, später die Arve (Pinus cembra). Der Weg zum Fuss der Gletscherzunge führt deshalb zunächst durch ein junges Lärchenwäldchen. Es dauert über 150 Jahre, bis nach dem Rückzug des Gletschers ein richtiger Wald entsteht.

NEUE ARTEN EROBERN DIE GIPFEL

Conradin A. Burga, Professor für Physische Geographie, beobachtet die Entwicklung am Morteratsch seit 25 Jahren. Jedes Jahr macht er mit seinen Studierenden eine Exkursion ins Engadin, damit sie sich vor Ort ein Bild machen können. Gerade im Vorfeld des Gletschers auf dem Rückzug gebe es immer wieder Neues zu entdecken, freut sich Burga. Die Erforschung der alpinen Flora ist eines von Conradin Burgas Forschungsgebieten, das mit der Klimaerwärmung an Dynamik und Brisanz gewonnen hat. Im Rahmen der Global Observation Research Initiative in Alpine Environments (GLORIA) wird untersucht , wie sich die Klimaerwärmung auf die alpine Vegetation auswirkt. Zu diesem Zweck werden die Vegetationskundler zu Bergsteigern. Denn am besten lassen sich die Folgen der globalen Erwärmung weit oben dokumentieren – vorzugsweise auf über 3000 Metern. «Gipfelflora Monitoring» nennt sich diese Disziplin, die wissenschaftliche Arbeit mit Leistungssport verbindet. Dabei wird nach international festgelegten Regeln die Vegetation der obersten 10 Meter eines Gipfels inventarisiert. Burga hat zusammen mit Kollegen und Studierenden 2003 elf Gipfel im Bernina-Gebiet untersucht und dabei Erstaunliches festgestellt: Die Zahl der Arten hat sich im Vergleich mit früheren Erhebungen vervielfacht. Auf dem Piz Tschüffer (2916 m) etwa wurden vor rund hundert Jahren 7 Arten gezählt, 2003 waren es 27. Das entspricht einer Zunahme von fast 300 Prozent. Andere Gipfel weisen ebenfalls sehr hohe Zuwachsraten aus, neun Gipfel zeigen eine Zunahme der Arten von 23 bis 286 Prozent.

Einige der Pflanzen haben bei ihrem Aufstieg in den vergangenen hundert Jahren erstaunliche Höhendifferenzen überwunden. So findet sich der Graue Alpendost (Adenostyles alliariae) heute auf 3040 Metern (plus 440 m), die robusten Arven wachsen bis auf 2810 Meter (plus 230 m). Den grössten Sprung hat der Zerbrechliche Blasenfarn (Cystopteris fragilis) gemacht (plus 520 m, auf 2720 Meter). Zu noch eindrücklicheren Ergebnissen kam Esther Frei, die für ihre Diplomarbeit in den Sommern 2004 und 2005 die Alpenflora am Piz Languard bei Pontresina (3262 Meter) inventarisierte und mit den Ergebnissen von 2003 und früheren Aufnahmen verglich, die bis ins Jahr 1905 zurückreichen. Frei untersuchte nicht nur die obersten zehn Meter, sondern den Höhenbereich von 3000 bis 3262 Metern. Dabei konnte bei 37 Arten ein deutlicher Anstieg festgestellt werden, 12 Arten stiegen geringfügig ab und 36 blieben mehr oder weniger stabil. Die Anstiege, die Frei verzeichnete, liegen zum Teil noch beträchtlich über jenen der Untersuchungen von 2003, beispielsweise beim Alpen-Hornklee (Lotus alpinus, plus 645 m) oder der Arnika (Arnica montana, plus 565). Von 980 Blüten- und Farnpflanzen des Unterund Oberengadins weisen 213 Arten einen Höhenanstieg von mehr als 100 Metern auf.

PREISELBEEREN AUF 3000 METERN

Pioniere der Alpen-Botanik wie Oswald Heer, Paläobotaniker an der Universität und ETH Zürich, haben diese aufschlussreichen Vergleiche ermöglicht. Heer zählte 1866 die Pflanzen auf dem Piz Linard. Für die Arbeit von Burga und seiner Kollegen waren jedoch vor allem die Inventare von Eduard Rübel (1912), dem Stifter des Geobotanischen Instituts der ETH Zürich, von Josias Braun- Blanquet (1913), der die Pflanzensoziologische Nomenklatur entwickelte, und von Hans Rudolf Hofer (1992) besonders wertvoll.

Wenn auf 3000 Metern plötzlich Preiselbeeren wachsen (Vaccinium vitis-idaea, plus 460 m), die normalerweise in den Gebirgs- Nadelwäldern bis höchstens zur Waldgrenze verbreitet sind, ist das für Burga ein klares Indiz für den Klimawandel. Wie die Daten nahe legen, hat sich der Anstieg seit 1985 zudem um rund zehn Höhenmeter pro Jahrzehnt beschleunigt. In dieser Zeit erwärmte sich das Klima um 0,5 bis 0,7 Grad Celsius, ein Trend, der sich bis Mitte dieses Jahrhunderts verstärkt. Es dürfte deshalb nur eine Frage der Zeit sein, bis auf einigen Engadiner Gipfeln Lärchen und Arven wachsen.