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Religiöse Gretchenfrage

Schulkinder haben heute unterschiedlichste religiöse Hintergründe. Wie könnte ein Religionsunterricht aussehen, der dies berücksichtigt? Die Religionswissenschaftlerin Katharina Frank ist der Frage nachgegangen.

Von Daniela Kuhn

«Was bist du?», wurde das Kind gefragt, «katholisch oder protestantisch?» Weder der einen noch der anderen Religion zugehörig, fühlte sich das Kind ertappt, stammelte «gar nichts» und begann schnell von etwas anderem zu sprechen. Seither sind 30 Jahre vergangen, die Gretchenfrage wird anders gestellt, die soziokulturelle Palette ist markant bunter geworden: In städtischen Gegenden der Schweiz sind heute 15 bis 20 Prozent der Schulkinder muslimisch. Konfessionslose oder freikirchlich orientierte Kinder sind alles andere als eine Seltenheit. Gemäss Volkszählung hat sich in der Schweiz zwischen 1990 und 2000 sowohl die Zahl der Personen ohne Religionszugehörigkeit wie auch jene der Personen mit nichtchristlicher Orientierung fast verdoppelt. Die Werte für Volksschüler werden entsprechend zwei- bis dreimal höher geschätzt.

Vorbei ist auch die Zeit der heiter-naiven «Multikulti»-Begeisterung, weiss doch heute jedes Kind, dass diese Zahlen implizit vielschichtige Konflikte und Herausforderungen beinhalten. Schulpolitisch stellt sich aktuell die Frage, ob und wie ein Religionsunterricht an der öffentlichen Schule gestaltet werden soll. Die Religionswissenschaftlerin Katharina Frank hat dazu geforscht. Im Rahmen ihrer Dissertation untersuchte sie, wie «religiöses Wissen» vermittelt wird, ob eher eine Identifikation oder eine Distanzierung der Schüler vom Inhalt des Unterrichts im Vordergrund steht. Frank beobachtete verschiedene Unterrichtsstunden in Deutschschweizer Kantonen und in Deutschland. Ihre Forschung ist angesichts der politischen Debatte rund um den Religionsunterricht an der öffentlichen Schule für die Praxis besonders relevant. Bei der Auswertung des empirischen Materials fand Katharina Frank drei Typen des didaktischen Umgangs mit religiösen Inhalten. Die Religionswissenschaftlerin spricht in diesem Zusammenhang von verschiedenen Bezugsfolien oder Bezugssystemen. Sie unterscheidet dogmatische, lebensweltliche und kulturkundliche Bezugssysteme. Eine nach dem dogmatischen Typus arbeitende Lehrperson gibt die Bezugsfolien bestimmter Lehren für die Auslegung eines religiösen Textes oder eines religiösen Bildes vor. Eine Lehrperson, die nach dem lebensweltlichen Typus arbeitet, stellt eine Geschichte, ein Objekt oder ein Ritual aus einer religiösen Tradition vor und bildet diesen Gegenstand dann auf die Lebenswelt der Schüler ab. Eine nach dem kulturkundlichen Typus arbeitende Lehrperson stellt religiöse Phänomene in den jeweiligen historischen und sozialen Kontext. Die beiden ersten Typen, das dogmatische und das lebensweltliche Bezugssystem, kommunizieren gemäss Frank Transzendenz. Der kulturkundliche Typus hingegen vermittelt ein wissenschaftlich abgestütztes und sozial geltendes Wissen, wie dies in anderen allgemeinbildenden Fächern auch der Fall ist.

VERLETZTE RELIGIONSFREIHEIT

Auf die praktische Umsetzung dieser Forschungsergebnisse hin befragt, erzählt Katharina Frank ein Bespiel aus der Praxis: «Ich habe Kinder beobachten können, denen gesagt wurde, sie sollen zeichnen, wie sie sich Gott vorstellen und den anderen ihr Bild erläutern.» Am Schluss der Stunde habe es kein einziges Kind mit leerem Blatt gegeben, mindestens einen Kreis habe jedes gezeichnet. In einem fakultativen Religionsunterricht, meint Frank, ist eine solche lebensweltliche Religionsdidaktik gut möglich. «Findet eine derartige Aufforderung jedoch in einem obligatorischen Religionsunterricht statt», betont die Religionswissenschafterin, «öffnet man sehr leicht Tür und Tor für Indoktrination – muslimische und jüdische Kinder sowie Kinder, die nicht religiös sein wollen, können sich bei diesem Auftrag in ihrer Religionsfreiheit verletzt fühlen.» Von Transzendenz als einer Wirklichkeit zu sprechen, ist in einem Schulunterricht, in dem auch viele Kinder ohne religiöse Orientierung sitzen, hingegen problematisch. Aufgrund ihrer Forschungsergebnisse kommt Frank zum Schluss, der kulturkundliche Typus, der sozial oder wissenschaftlich erklärtes Wissen vermittelt, sei angemessen für den obligatorischen Religionsunterricht.

Dass diese Unterrichtsform von Schulkindern nicht als langweilig empfunden wird, hat Frank bei ihren Schulbesuchen immer wieder beobachtet: Schüler und Schülerinnen zeigten sich äusserst interessiert, wenn religiöse Fragen, also beispielsweise Fragen zu Leben und Tod, sowie Antworten darauf als «Produkte» von Menschen behandelt wurden. Mit anderen Worten: Beim kulturkundlichen Typus geht es darum, die Menschen und Gruppen, für die Gott eine Realität ist, aus ihrem historischen und sozialen Kontext heraus zu verstehen und nachzufragen, wie diese Menschen ihre «heiligen» Schriften und Rituale verstehen – wie die Schüler persönlich diese verstehen und auf ihre Lebenswelt beziehen, steht nicht zur Debatte. Die Kinder können aber sehr wohl ihre eigenen Kenntnisse, politische und soziale Erlebnisse und natürlich auch diesbezügliche Fragen in den Unterricht einbringen. Über Gott und Götter befinden müssen und sollen sie nicht. Diesen Verzicht auf eine normative Grundierung – sofern er denn gelingt – bezeichnet Katharina Frank als «sozialen Mehrwert».

RELIGIÖSES WISSEN GEFRAGT

Bei der Frage nach einem Religionsunterricht an der öffentlichen Schule muss die neue Bundesverfassung im Auge behalten werden. Diese formuliert sowohl ein Recht auf religiösen Unterricht als auch ein Recht, diesem fernzubleiben. Muss somit wie bisher der Religionsunterricht Vertretern der christlichen Konfessionen übergeben und somit als fakultativ erklärt werden? Der Tenor der Zürcher Bildungsinstanzen geht in eine andere Richtung: «Religion und Kultur» soll ein obligatorisches Religionsunterricht sollte wissenschaftlich objektiviertes Wissen vermittelt werden. Fach werden, in dem «religiöses Wissen» allen Schülern vermittelt wird. Die zunehmende soziokulturelle Vielfalt hat offenbar ein Bedürfnis nach kulturellem und religiösem Wissen wachgerufen.

NEUER UNTERRICHT GEPLANT

Die zuständigen Kommissionen streben heute ein Modell an, bei dem das Kennenlernen und Darstellen von verschiedenen Religionen im Vordergrund stehen. Dabei wird von der Prämisse ausgegangen, dass Menschen – empirisch gesehen – nicht notwendigerweise religiös sind. Weder Lehrer noch Schüler müssen einer bestimmten Religion angehören; der Zugang zu den Religionen ist religiös bekenntnisneutral. Im Kanton Zürich soll bereits im nächsten Schuljahr ein «Religion und Kultur»-Unterricht auf Sekundarstufe I eingeführt werden, der nach der einjährigen Pilotphase obligatorisch sein wird.

Was hält Katharina Frank aufgrund ihrer Forschungsergebnisse von der ersten Fassung des «Religion und Kultur»-Lehrplans? Er sei noch zu nah an einem religiös-normativ grundierten Modell orientiert, meint die Religionswissenschafterin, denn der Lehrplan beabsichtigt, religiöse Phänomene auf die Lebenswelt der Jugendlichen zu beziehen. Und damit konstruiert er bei den Schülern Religion. Katharina Frank lässt es an Deutlichkeit nicht fehlen: «Ein obligatorischer Religionsunterricht, zu dessen Programm es gehört, über transzendente Mächte selber zu befinden, ist unter der Bedingung der Religionsfreiheit meines Erachtens problematisch – am Ende müssen dies jedoch die Religionsrechtler entscheiden.»