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Kickende Kaiser

Die Engländer haben den Fussball erfunden? Falsch. Gekickt wurde bereits vor 2000 Jahren in China. In einem Buch wirft der Kunsthistoriker Helmut Brinker Schlaglichter auf die Anfänge des Sports in Fernost.

Von Roger Nickl

KÖNIG FUSSBALL REGIERT DIE WELT. Wohl keine andere Sportart hat weltweit so viele begeisterte Anhänger. Millionen und Abermillionen rund um den Globus kicken in Schul- und Hinterhöfen, an Strandpromenaden und auf Rasenplätzen oder sie fiebern als Zuschauer mit – sei es im Stadion oder am virtuellen Spielfeldrand zu Hause vor dem Fernseher. Dass das Fussballvirus schon früh in die Welt gekommen ist, zeigt der Kunsthistoriker Helmut Brinker in einem Buch.

«Laozi flankt, Konfuzius dribbelt» heisst der Titel der lustvollen Studie. Damit bringt Brinker ein Land ins Spiel, das bislang im fussballhistorischen Offside stand: Ging es um die Anfänge des Fussballs, war von China bisher kaum die Rede. Ganz anders war dies mit Grossbritannien und Italien: Zahlreich sind die Berichte über den Calcio storico im Florenz des 15. Jahrhunderts oder den Soccer, wie er bereits im Frühmittelalter in England gespielt wurde: Zwei Dörfer, die gegeneinander antraten, versuchten den Ball durch das gegnerische Stadttor zu bugsieren. Die Mittel dazu waren gelinde gesagt rabiat, der Stil mehr als «rustikal» – schlimme Verletzungen waren jedenfalls an der Tagesordnung. Auf der Insel wurde einige Jahrhunderte später auch das erste Regelwerk für das Fussballspiel, wie wir es heute kennen, erarbeitet: Federführend war die 1863 in London gegründete Football Association. Aus diesen Gründen gilt für viele England als Mutterland des Fussballs. Tatsächlich liegt die wahre Wiege des Kickens aber im Fernen Osten: In China wurde bereits vor über 2000 Jahren Fussball gespielt.

Nur: Bislang wusste man wenig Konkretes über die Erfindung des Sports im Reich der Mitte. «Die Anfänge des Fussballspiels wurden in China oft mit dem ‹Gelben Kaiser›, einem mythischen Urkaiser, in Verbindung gebracht», erzählt Helmut Brinker. In einem 1973 entdeckten Grab in der Provinz Hunan aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus fand man ein auf Seide geschriebenes Manuskript, das darüber berichtet. Demnach soll der sagenumwobene Herrscher einst befohlen haben, den Magen eines getöteten Widersachers auszustopfen und zu einem Ball zu verarbeiten, den man mit Füssen treten konnte. Der legendäre Anfang des Fussballs hat seine gruselige Seite. «Ein archetypischer Racheakt, der auch aus anderen Kulturen bekannt ist», sagt Brinker, «vielfach wurde auch der Kopf des Gegners wie ein Ball getreten.»

Die Villa Schönberg liegt auf einer Anhöhe in einem Park in Zürich-Enge. In der Ferne rauscht die Stadt – Idylle pur. Hier, in einem Gebäude des Museums Rietberg, ist die Abteilung für Kunstgeschichte Ostasiens untergebracht, die Helmut Brinker leitet. Ein Forscherleben lang hat der 66-jährige Professor das Kunstschaffen in China und Japan untersucht. Er hat wichtige Beiträge zur buddhistischen Malerei und Plastik, zur Archäologie und Kunsttheorie geschrieben. Neben der Wissenschaft hat sich der Kunsthistoriker aber auch immer für Bodenständigeres interessiert: Brinker ist ein begeisterter Fussballfan. Bereits in seiner Jugend spielte er beim norddeutschen 1. FC Lübbecke am rechten Flügel. Mit seinem Forschungsprojekt hat er nun die Leidenschaften für Kunst und Kicken verbinden können.

Am Anfang der Studie stand ein Fussballbuch, das der NZZ-Verlag zur Europameisterschaft 2004 herausgegeben hat – eine Textsammlung mit unterschiedlichsten Autoren: von der Rechtsaussen des FC Nationalrat und damaligen SP-Fraktionsvorsitzenden Hildegard Fässler über den Ottmar- Hitzfeld-Biografen und Pfarrer Josef Hochstrasser bis hin zu Naticoach Köbi Kuhn. Auch Helmut Brinker wurde angefragt, einen Text über die Erfindung des Fussballs in China zu schreiben. Der Steilpass des Verlags hatte Folgen: Der Kunsthistoriker stieg in die Archive hinab und kontaktierte Museen. Er ging auf die Suche nach historischen Textquellen, die sich mit Fussball beschäftigten, und übersetzte diese erstmals ins Deutsche. Er trug Bildquellen zusammen, die kickende Kaiser, jonglierende Beamte und dribbelnde Hofdamen darstellten, und sammelte von Künstlern bemalte Alltagsgegenstände, die Fussballszenen zeigten. Helmut Brinker machte reiche Beute: «Ich habe in kurzer Zeit so viel Material zu diesem Thema gefunden, dass ich schon bald auf die Idee kam, dazu ein Buch zu machen.» Mosaikstein um Mosaikstein hat sich so zu einer kleinen Faszinationsgeschichte des Fussballs im alten China zusammengefügt. Helmut Brinkers Buch beschäftigt sich vor allem mit dem Zeitraum zwischen dem 4. Jahrhundert vor und dem 13. Jahrhundert nach Christus. Das Bild, das sich zeigt, ist erstaunlich: «Je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto ähnlicher ist das Spiel dem Fussball, wie wir ihn heute kennen», erklärt er. So weiss man, dass im alten China Mannschaften mit sechs Spielern gegeneinander antraten, die versuchten, den Ball in Tore oder Torräume zu bugsieren – wie das genau ablief, kann man heute nicht mehr rekonstruieren. Was jedoch bekannt ist: Bereits in der Han-Zeit (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) liessen Kaiser auf dem Palastareal regelrechte Stadien bauen. «Fussball war von Beginn weg hoffähig», sagt Brinker, «und einige Kaiser waren begeisterte Fans.»

Bereits früh gab es auch die ersten Fussballstars. Ballkünstler, die dank ihren Fähigkeiten in der besonderen Gunst des Kaisers standen – etwa Gao Qiu, «Gao-Fussballgott», über den der volkstümliche Roman «Die Räuber vom Liangshan- Moor» berichtet. Pelé, Kaiser Franz, Beckham, Ronaldinho und wie sie alle heissen, können auf eine lange Ahnenreihe zurückblicken. Und: «Im alten China wurden die ersten Fussballvereine und -ligen gegründet», weiss Helmut Brinker. Die wohl bedeutendste Vorgängerin der UEFA Champions League hatte den himmlischen Namen «Bundes- Wolken-Liga». Aber nicht nur wettkampfmässig wurde gekickt: Fussball galt in China schon früh als Volkssport. So etwa in der vom Fussballfieber gepackten Stadt Linzi in der heutigen Provinz Shandong, über die der Historiograph Sima Qian(zirka 145 bis 86 v. Chr.) berichtet. Und Brinker ergänzt: «Später in der Song-Zeit, zwischen 960 und 1279, hat sich Fussball als beliebtes Freizeitvergnügen von Männern und Frauen, Jungen und Mädchen in Parks und Gärten, in Stadt und Land einen festen gesellschaftlichen Stellenwert erobert.»

Helmut Brinkers Studie zeigt, wie sich die Spielarten des Fussballs im Laufe der Zeit zunehmend ausdifferenzierten. Im 9. Jahrhundert entwickelte sich die Sportart in zwei verschiedene Richtungen: «Zum einen wurde Fussball weiterhin wettkampfmässig als Mannschaftssport nach ausgefeilten Regeln und in speziellen Arenen mit klar abgemessenen Toren, Eckpfosten und ähnlichen Markierungen betrieben», erklärt Fussballexperte Brinker, «zum anderen traf man sich zum ungezwungenen Alternativ-Fussballspiel, dem so genannten ‹baida›, das man wohl am besten mit Volley- Kicken umschreibt.» Die Teilnehmer spielten sich den Ball zu, ohne dass dieser den Boden berührt – eine Variante des Fussballs, die auf selbstverliebte Jongleure und Ballartisten zugeschnitten scheint und heute noch als «footbag» oder «hacky sack» bekannt ist.

Wohl auch ein Tummelfeld für Ballkünstler war eine Spielart, die während der Song-Dynastie en vogue war: Zwei gegnerische Mannschaften spielten auf ein zehn Meter hohes Tor, das im oberen Teil eine zirka 40 Zentimeter grosse Öffnung aufwies – «halb Rugby-Malstangen, halb ZDF-Torwand», sagt Helmut Brinker. Ambitioniertes Ziel war es nun, den Ball durch das kleineLoch hindurch zu spedieren. Genauso fremd wie diese Form des Fussballs heute anmuten mag, war auch die Siegerehrung. Während die Gewinner vom Kaiser einen Pokal überreicht bekamen und in Seide gehüllt wurden, mussten die Verlierer mit einer Abreibung rechnen.

Während im Altertum noch mit einem ausgestopften Ball gespielt wurde, erfand man später den Qiquifu, eine Lederhaut, die mit einer aufgepumpten Blase gefüllt war – ein Meilenstein in der Fussballgeschichte, denn mit dem wesentlich wendigeren Ball wurden ganz neue Techniken und spielerische Taktiken möglich. Der Gelehrte und Dichter Zhong Wupo feiert in seiner «Rhapsodie auf den aufgepumpten Ball» diesen fussballerischen Quantensprung: «Luft und Leder! Zusammen bilden sie den neuen Ball. Ei, wie er tanzt und springt mit voller Kraft. (…) Wenn jetzt ein fester Kick den Ball erreicht, schon saust er auf das Tor, ganz wie von selbst», schwärmt er. «Dieser Text aus dem 9. Jahrhundert dürfte die älteste und wohl auch schönste Huldigung an denFussball sein», ist Helmut Brinker überzeugt. Ein anderes schönes Stück, das Brinker im Museum der chinesischen Provinz Hebei aufgespürt hat, ist eine achteckige Keramik-Kopfstütze aus der Jin-Dynastie (1115 bis 1234), auf der ein Nachwuchsspieler beim Jonglier-Training abgebildet ist. «Solche Kopfstützen dienten nicht nur dazu, während heisser Sommernächte Kühle zu spenden», erklärt der Kunsthistoriker, «sie sollten auch schöne Träumen anregen.» Der Traum von der grossen Fussballkarriere, wie sie sich heute Millionen von Jugendlichen erhoffen, wurde schon früh geträumt – wohl viel früher, als wir bislang geglaubt haben.