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Seismogramme der Schweizer Politik

Politiker reden gerne und oft. Doch weshalb tun sie das? Und welche Wirkung entfalten solche Reden? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Verfassungsrechtler Andreas Kley.

Von Thomas Gull

Der junge französische Adelige Alexis de Tocqueville (1805–1859) bereiste 1831 die Vereinigten Staaten von Amerika. Er hatte von der französischen Regierung den Auftrag, das Rechtssystem und den Strafvollzug zu studieren. Was er auch tat. Daneben gewann Tocqueville jedoch auch tiefe Einblicke in das Wesen und Funktionieren einer Demokratie. Die Schlüsse, die er daraus zog, hat er in seinem bahnbrechenden Werk «Über die Demokratie in Amerika» veröffentlicht (1835/ 1840). Tocquevilles zentrale Erkenntnis war, dass die «moeurs», die Sitten und Gebräuche, der eigentliche Kitt sind, der den freiheitlichen, demokratischen Staat am Leben erhält. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Religion, respektive ihr Surrogat, die Zivilreligion. Diese eint die Bürger im Glauben an ihren Staat und die staatlichen Institutionen. Tocqueville stellte fest: «Die Amerikaner verschmelzen in ihrem Denken Christentum und Freiheit vollkommen.» Das war seiner Ansicht nach eine unabdingbare Voraussetzung für das Überleben des demokratischen Staates. Despotismus komme ohne Glauben aus, die Freiheit aber nicht, war Tocqueville überzeugt: «Was soll man tun mit einem Volk, das als Herr seiner selbst nicht Gott untertan ist?»

Tocquevilles Überlegungen zur amerikanischen Demokratie haben ihn zum Begründer der vergleichenden Politikwissenschaft gemacht. Und er hat die moderne Theorie der Zivilreligion entwickelt. Der neugierige Franzose hätte allerdings nicht nach Amerika reisen müssen, um das Funktionieren eines demokratischen Gemeinwesens zu studieren. Er hätte dies auch in der Schweiz tun können, die er ebenfalls bereiste. Das wäre aber selbstverständlich weniger spektakulär und überzeugend gewesen – denn was kann die Grande Nation schon von den Kuhschweizern lernen?

Was Tocqueville damals verpasste, holt Andreas Kley heute nach. Kley ist Professor für Öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich. Er untersucht, was die Schweiz im Innersten zusammenhält – unser nationales Selbstverständnis. Doch welche Dokumente geben Auskunft über die Moeurs eines Landes? Kley hat auf diese Frage eine bestechende Antwort gefunden: wichtige politische Reden. Dazu gehören unter anderem die Neujahrs- und die 1.-August-Ansprachen der Bundespräsidenten. «Diese Reden sind interessant, weil sie den Zeitgeist spiegeln», erklärt Kley, «sie zeigen, mit welcher Gesinnung die Bundesräte ihr Amt führen oder geführt haben.» Anhand dieser Reden an die Nation lässt sich zeigen, wie sich das Denken der politischen Elite im Laufe der Zeit verändert hat. In seinem Forschungsprojekt «Politische Reden in der Schweiz» analysiert Kley diese und weitere Reden von nationaler Bedeutung seit 1798 – dem Untergang der alten Eidgenossenschaft – bis heute. Das Thema sei überhaupt noch nicht aufgearbeitet, betont er. Deshalb will er nicht nur die Geschichte der grossen politischen Reden unsere Landes schreiben, sondern diese Quellen auch für weitere Forschungen zugänglich machen, indem er ein Verzeichnis der Fundstellen zusammenstellt und die wichtigsten Reden publiziert.

Weshalb beschäftigt sich ein Rechtswissenschaftler mit einem Thema, das eigentlich zur Domäne der Historiker gehört? Die Historiker interessierten sich nicht mehr dafür, konstatiert Kley lachend. Aus der Perspektive der Verfassungsgeschichte seien die Reden aufschlussreich, weil sie die «weiche Materie» zwischen den (Rechts-)Normen sind, die das Funktionieren des Staates gewährleisten. Die Gesinnung, die in den Reden zum Ausdruck kommt, wirkt sich im politischen Alltag aus und schlägt sich auch in der Rechtssetzung und -anwendung nieder.

Die beiden wichtigsten jährlich wiederkehrenden politischen Ansprachen unseres Landes sind die Neujahrsansprache und die Rede zum 1. August des Bundespräsidenten. Beide reichen weniger weit zurück, als man vermuten würde. Die erste Rede zum 1. August wurde 1915 von Bundesrat Giuseppe Motta gehalten. Erst seit 1933 gibt es eine lückenlose Reihe präsidialer 1.-August-Ansprachen. Die Neujahrsansprachen sind noch neueren Datums: 1935 wandte sich Bundespräsident Rudolf Minger erstmals zum Auftakt des neuen Jahres ans Volk, seit 1940 wird dieses Ritual ohne Unterbruch wiederholt. Die Jahreszahlen der «Erfindung » dieser Reden sind bezeichnend für ihre Funktion und intendierte Wirkung: Der Bundespräsident hat sich jeweils in Zeiten grosser Not oder Bedrängnis ans Volk gewandt, um die nationale Einheit und den Widerstandswillen zu stärken. 1915 ging es darum, das Auseinanderfallen der Schweiz zu verhindern: Während die Deutschschweizer in den Wirren des Ersten Weltkrieges mehrheitlich mit den Achsenmächten sympathisierten, standen die Romands auf der Seite Frankreichs. Motta versuchte – wie vor ihm bereits Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler mit seiner Rede «Unser Schweizer Standpunkt» – die Gräben zuzuschütten und den nationalen Zusammenhalt zu stärken. 1935 wandte sich Bundespräsident Minger mit der ersten Neujahrsansprache mitten in der Wirtschaftskrise an die Schweizer Bevölkerung. Dabei verglich er die Lage der Nation mit einer mühsamen Wanderung im Nebel und erinnerte daran, dass irgendwo über diesem Nebelmeer die strahlende Sonne leuchte. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges waren die Ansprachen für die Bundespräsidenten dann wichtige Gelegenheiten, um den Widerstandswillen des Volkes zu stärken.

Kley hat bei seiner Analyse drei zentrale Themen ausgemacht, die die Reden prägen: Der Rückgriff auf historische Mythen, Religion und Gott und in jüngerer Zeit vermehrt die Wirtschaft. Vor allem die beiden ersten Topoi werden in den politischen Reden traditionell als Instrumente eingesetzt, um die Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht zu nehmen, um ihren Gemeinsinn zu stärken und sie dazu zu bringen, ihren Egoismus und ihr materielles Streben dem Gemeinwohl unterzuordnen. In den Reden werden Geschichtsmythen und religiöse Motive amalgamiert. Daraus entsteht die Zivilreligion als Kitt, der das Land zusammenhalten soll. «Die Zivilreligion verbindet Religion und Staat und hilft, die Herrschaft des freiheitlichen Staates zu stabilisieren», resümiert Kley. Wenn sich die Bürger nicht freiwillig unterordnen, funktioniert das demokratische Gemeinwesen nicht.

Wie Kley mit seiner Arbeit zeigt, verändert sich die Zivilreligion im Laufe der Zeit, und auch die Historie wird je nach Bedarf anders interpretiert und instrumentalisiert. So ist Gott mittlerweile weitgehend aus den Reden verschwunden. Der Schöpfer hat der Schöpfung und anderen «Gottessurrogaten » wie Menschenrechten und -würde oder der Nachhaltigkeit Platz gemacht. Diese hätten als Worte den gleichen Effekt wie Gott, «sie nehmen aber Rücksicht auf die religiöse Individualisierung », analysiert Kley in seinem Aufsatz «Und der Herrgott, Herr Bundespräsident?». Mit dem Einsatz solcher neuer «sakraler» Begriffe entstehe eine andere Form der Zivilreligion, die ohne Gott auskomme. Ihre Wirkung sei aber beschränkt, weil sie «ein rhetorische Vehikel für Einzelanliegen » ist. Die Verabschiedung Gottes aus den präsidialen Reden wirft heute keine hohen Wellen mehr – anders als 1957, als Bundespräsident Streuli in seiner Neujahrsansprache Gott mit keinem Wort erwähnte und damit eine Debatte auslöste: «Und der Hergott, Herr Bundespräsident?», fragte damals der Freiburger Professor Willy Büchi in einem vom «Vaterland» publizierten Artikel.

Andere Versatzstücke unserer nationalen Zivilreligion haben ein beachtliches Beharrungsvermögen – wenn sie einmal da sind, kann man sie kaum mehr aus der Welt schaffen. Das gilt insbesondere für den Rütligeist, der während des Zweiten Weltkrieges als Teil der geistigen Landesverteidigung geschaffen wurde und zusammen mit dem Landigeist und dem Réduit die heilige Dreifaltigkeit der nationalen Selbstbehauptung bildete. Der Rütligeist steht für eine von der Welt abgewandte, eingeigelte, sich selbst genügende Schweiz. Er treibt heute noch sein Unwesen. Dabei versuchen Schweizer Politiker ihn durch den «Geist der Öffnung» zu vertreiben. Diesen rief Bundesrat Graber in seiner Rede vom 1. August 1975 zum ersten Mal an: «Vor allem muss der Geist der Öffnung unser Suchen leiten. Und hier möchte ich es unumwunden sagen: Jede Art von bekümmertem Rückzug in sich selbst, den gewisse von Sehnsucht erfüllte Kreise innig herbeizuwünschen scheinen, ist voller Gefahren.» Die beiden Geister ringen noch heute miteinander, wie Kley diagnostiziert.

Das zeigt sich an der politischen Zerrissenheit des Landes in der Europafrage oder bei der Globalisierung. Wobei der Geist der Öffnung eher in der Westschweiz und jener des Rütlis in der Innerschweiz zu Hause ist. Wie der Kampf ausgehen wird, ist noch offen.

Was würde Tocqueville zur Entwicklung der Moeurs unseres Landes sagen? «Er wäre begeistert », sagt Andreas Kley, «weil sich seine Paradoxien bewahrheitet haben und die Demokratie jenen Weg geht, den er prophezeit hat: Die öffentliche Meinung bekommt so viel Macht, dass sie einzelne, abweichende Menschen vernichtet.» Das gelte auch für die politischen Reden, denn diese passen sich der Entwicklung an, sie nehmen sie auf, können sich aber nicht gegen sie richten. «Wenn eine politische Rede erfolgreich sein soll, muss sie ansprechen, was offensichtlich anwesend ist oder wovor wir uns latent fürchten.» Das heisst, die grossen politischen Reden sind nicht die Schrittmacher, sondern nur die Seismogramme der politischen Befindlichkeit.