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Michael Rüegg, St. Gallen, studierte an der UZH Philosophie und schreibt zu diesem Thema eine Dissertation bei Daniel Hell und Klaus Peter Rippe.

Nicht schuldig, bloss krank

Ist Willensfreiheit eine Illusion? Sind Verbrecher gar nicht schuldfähig? Eine spannende, kontroverse Debatte zu diesen Fragen fand im Rahmen des Jubiläums an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät statt.

Von Michael Rüegg

Nach heutigem Rechtsverständnis wird eine Person, die eine Straftat begeht, dafür persönlich verantwortlich gemacht, vorausgesetzt sie ist zurechnungsfähig. Dieser «Glaube an den freien Willen», so der Rechtswissenschaftler Andreas Kley in seiner Einführung zur Tagung «Hirnforschung – Chancen und Risiken für das Recht», sei ein «Axiom unseres liberalen Rechsstaates». Für Gerhard Roth, Verhaltensphysiologe an der Universität Bremen, ist dieses von der Aufklärung geprägte Konzept der menschlichen Freiheit ein blanker Irrtum, der freie Wille, mithin das Gefühl «man hätte anders handeln können» eine neuronal verursachte Illusion. Unser Gehirn habe nämlich längst entschieden, bevor wir uns dessen überhaupt bewusst würden (Experimente von B. Libet).

Diese neurowissenschaftliche Sichtweise hat Folgen, auch für das Bild des Straftäters. Gestützt auf statistische Untersuchungen (Delmenhorster Studie «Psychobiologische Grundlagen aggressiven und gewalttätigen Verhaltens») und bildgebende Verfahren (Hirn-Screening) will Roth den Ursprung von Verbrechen primär in «neuroanatomischen und neurophysiologischen Hirndefiziten » gefunden haben. Zwar gebe es kein spezifisches Verbrecher-Gen, doch hätten Menschen mit einer Störung im Serotoninhaushalt und/oder einer Schädigung im Frontalhirn oder der Amygdala eine markant erhöhte Empfänglichkeit für aggressives Verhalten und seien vor allem im Zusammenspiel mit weiteren Risikofaktoren (z. B. männliches Geschlecht, ungünstige Sozialisation, traumatische frühkindliche Ereignisse) gar nicht in der Lage, nach unseren gesellschaftlichen Normen zu handeln.

Roth fordert deshalb eine Abkehr vom Schuldprinzip. An die Stelle von Strafen sollten Massnahmenregelungen treten (Stärkung des Rechtsbewusstseins, Abschreckung, Umerziehung, Therapie, Wegsperren). Die Pathologisierung des Täters bietet auf den ersten Blick überzeugende Vorteile. Roth denkt ganz besonders an das präventive Potenzial, würden sich doch abnorme Hirnbefunde in der Regel schon vor der Geburt oder in der frühen Kindheit beziehungsweise Jugend zeigen. Man könnte potenzielle Gewalttäter also bereits früh identifizieren und, falls möglich, therapieren. Auch in der heiklen Frage nach der Verwahrung von Straftätern wären sichere Entscheide in Griffweite. Ein Mix aus statistischen Erwägungen und bildgebenden Verfahren könnte helfen, suspekte Gehirne aus unserer Gesellschaft zu entfernen.

Die verlockende These vom willenlosen, hirnkranken Verbrecher, die eine lange Tradition hat – man denke an die Physiognomik und Phrenologie des späten 18. Jahrhunderts oder an Lombrosos Lehre vom «Geborenen Verbrecher» Ende des 19. Jahrhunderts – fand bei den anderen Referenten keine Sympathien. Der Rechtswissenschaftler Marcel Senn kritisierte die «schnellschlüssigen Verallgemeinerungen», mit denen gewisse Hirnforscher unser Rechtssystem auf den Kopf stellen wollten – und das auf der Basis einer naiven «Textlogik». Vermeintlich wissenschaftliche Hirnbefunde seien bereits in der Vergangenheit politisch instrumentalisiert worden. So hätte man nach dem Tod von Lenin dessen Gehirn in Tausende von Scheiben geschnitten und mikroskopisch analysiert. Das aus heutiger Sicht groteske Resultat der Untersuchung: Der Denkapparat des Genossen zeigte «eine reichere materielle Basis als durchschnittliche Gehirne». Diese Mythologisierung werde verständlich vor dem Hintergrund damaliger Elite-Theorien. Wissenschaft, so Senn, sei eben vom Menschen gemacht und erweise sich daher immer auch als historisch bedingt. Das gelte auch für die aktuelle Hirnforschung und ihre Rede von einem neuen Menschenbild.

Defekt der moralischen Gefühle

Eine ähnliche Diagnose stellte auch der Psychiater Daniel Hell. Problematisch werde es immer dann, wenn sich die Hirnforscher von unserer «Alltagserfahrung» entfernen würden, etwa in dem sie sagen, das «Hirn selbst denke und fühle» (statt der Mensch mittels des Hirns). Solche kategorialen Fehlschlüsse, in diesem Fall eine Art «Vermenschlichung des Gehirns», seien nicht nur erkenntnistheoretisch fragwürdig, sondern auch in der Arbeit mit den Patienten wenig hilfreich. Ebenso machte auch Hell einen ausgeprägten Mangel an historischem Bewusstsein aus. So habe schon sein Vorgänger am Burghölzli, Eugen Bleuler (1857−1939), auf der Basis des gleichen Denkmusters (einem biologischen Determinismus) geglaubt, dass Verbrecher besser dem Strafrecht zu entziehen seien. Bleulers Argument: Verbrecher würden an einem «Defekt der moralischen Gefühle» leiden (ähnlich wie andere an einer Schwäche der Intelligenz) und bräuchten also nicht Strafe, sondern Behandlung oder Verwahrung. Hell, selbst in Klinik und Forschung involviert, wollte aber nicht die Neurowissenschaften als solche diskreditieren. Diese seien dort nützlich, wo sie helfen, die «Schuldfähigkeit im Einzelfall einzuschränken ». Und hier seien für die Zukunft durchaus neue Erkenntnisse zu erwarten.

Therapie oder Strafe

Den Schlusspunkt setzte die Rechtswissenschaftlerin Brigitte Tag, die bei der 2006 abgeschlossenen TA-Swiss Studie «Hirnuntersuchungen mit bildgebenden Verfahren» als Autorin mitwirkte. Am Beispiel des Lügendetektors, der in den USA immer häufiger in Gerichtsverfahren zugelassen werde, zeige sich, dass man bei diesen vermeintlichen Einblicken ins Gehirn aufpassen müsse, prognostische Aussagen nicht mit der Wahrheit selbst zu verwechseln. Weiter verwies sie auf die bislang vernachlässigte Perspektive der Opfer. Hier komme man bei der Formulierung von Alternativen zu unserem normativen Strafrecht an Grenzen. So hätten Erfahrungen in den USA gezeigt, dass Modelle, die nicht auf dem Schuldprinzip, sondern auf der Besserungs- und Therapierfähigkeit der Täter beruhten, scheiterten. Das Problem: verurteilte Täter seien schnell einmal «ohne Perspektive». Unsere relativen Straftheorien würden dagegen auf zwei Füssen stehen: Zum einen kennen sie ein festes Strafmass, zum anderen tragen sie durchaus den Besonderheiten des Täters und seiner Biografie Rechnung (was eben zur Verminderung oder gar Aufhebung der Schuldfähigkeit führen kann). Diese in der Praxis ebenso bewährten wie differenzierten Normen dürften nicht ohne Not aufgegeben werden.

Gibt es wirklich neue Erkenntnisse oder anders formuliert, wer hat recht? Die Podiumsdiskussion unter der Leitung von Markus Christen, studierter Philosoph und Doktor der Neuroinformatik, kreiste nochmals um die in den Referaten auseinandergelegten Themenkomplexe. Als Essenz der Tagung kann man festhalten, dass ein abnormes Hirnbild sicher noch keinen Verbrecher macht (oder dann wohl jeden von uns). Uneinig war man sich aber in der Frage der Prävention, insbesondere bei Kindern. Während für Hell die Gefahr einer Stigmatisierung schwer wiegt, eröffnen sich hier für Roth ganz neue Perspektiven. Zurück bliebe also die Frage, wie man denn mit potenziell straffälligen und eventuell unheilbar hirngeschädigten Kindern verfahren sollte? Sie vorsorglich aufhängen, wie es vor mehr als zweihundert Jahren Lichtenberg in einem seiner ironischen Aphorismen gegen Lavater und dessen einfältige Physiognomik empfiehlt?