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Zum Autor

Lukas Thommen ist Professor für Alte Geschichte und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar. Er hat im Frühjahr 2007 die Studie «Antike Körpergeschichte» als Uni-Taschenbuch 2899 bei der vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich veröffentlicht.

Stimmt es, dass die Alten Griechen körperbewusster waren, was wir es sind?

Von Lukas Thommen

Als Zeitgenossen sind wir natürlich geneigt, diese Frage spontan mit ja zu beantworten. Dafür lassen sich schnell auch einige handfeste Argumente aufzählen. Allein die fehlende Technik, Automatisierung und Motorisierung zwangen die antiken Menschen, ihren Körper viel umfassender einzusetzen, als wir es heute in grossen Teilen der westlichen Welt gewohnt sind. Dies betrifft sowohl den Bereich der Arbeit als auch der «Freizeit», wo Landstrecken zu Fuss,per Pferd oder Gespann zurückgelegt werden mussten. Zudem fallen einem die Bilder der täglich trainierenden Sportler und Wettkämpfer ein, welche die zahlreichen Gymnasien, Stadien und Palästren bevölkerten und ihre Körper regelmässig mit Öl salbten. Darüber hinaus stand militärisches Training auf dem Programm, und zahlreiche Kriegszüge forderten weiteren körperlichen Einsatz und Tribut. Schliesslich haben unzählige Statuen und Bilder die Schönheit des gerne nackt präsentierten, menschlichen Körpers vor Augen geführt. Griechische «Diätetik» hat die vernünftige Lebensführung mittels musischer Bildung und Gesundheitspflege propagiert, die an Ganzheitlichkeit nichts zu wünschen übrig liess.

Historikerinnen und Historiker begegnen der gestellten Frage freilich mit grösserer Skepsis und sind generell gefordert, nach differenzierten, gesellschaftsrelevanten Antworten zu suchen. Zunächst müsste nämlich genauer definiert werden, was überhaupt das «heutige» Körperbewusstsein umfasst und charakterisiert. Dafür sind Historiker auf zuverlässige anthropologische, soziologische oder ethnologische Studien angewiesen. Zudem wären sie gezwungen, die dort verwendeten Kategorien auch in der Antike auszumachen, um hier überhaupt einen Vergleich anstellen zu können. Bereits die unterschiedliche Quellenlage führt hier zu erheblichen Problemen, da die Antike weder lückenlose noch statistisch verlässliche Nachrichten überliefert hat.

Nacktheit nur in Grenzen

Üblicherweise bleiben die Historiker in der Vergangenheit stehen – und versuchen, allein schon auf dieser Stufe entscheidende Klärungsarbeit zu leisten. Dabei geht es oft darum, angestammte Pauschalvorstellungen, Topoi oder Clichés zu hinterfragen und durch differenziertere Aussagen zu widerlegen beziehungsweise ersetzen. Im Bereich des Körpers zeigt sich schnell einmal, dass die Griechen nicht etwa ein grundsätzlich unproblematischeres Verhältnis zur Nacktheit als spätere Epochen – und wohl auch die «heutige» Gesellschaft – hatten und Nacktheit schon damals nur in genau definierten Grenzen und Zusammenhängen zugelassen war. Umso interessanter wird es dann, nach den genaueren Bedeutungsinhalten von Nacktheit und bestimmten körperlichen Erscheinungsformen zu suchen.

Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass Körperkult in archaischer Zeit zunächst ein adliges Privileg war,dasauchbildlich durch monumentale Statuen zum Ausdruck gebracht wurde. Die Skulpturen enthielten die Botschaft, dass die Dargestellten Zeit und Musse für gymnastische und musische Bildung hatten und die idealen Voraussetzungen eines guten Bürgers, Sportlers, Kriegers und Liebhabers mitbrachten. Im Zuge der Demokratisierung dehnten sich diese Werte dann auf breitere Schichten aus, die sich ebenfalls regelmässig sportlich betätigten und am Gemeinwesen Anteil hatten. Nacktheit hatte sich im eng begrenzten Raum des männlichen Sports – fern von den Frauen – als Chiffre für entsagungsvolles und zugleich ruhmreiches Leben durchgesetzt.

Für die weibliche Lebenswelt hat die Forschung gezeigt, dass das Bild der ‹orientalischen Eingeschlossenheit›, bei der die Frauen ihr Leben zu Hause eingesperrt am Webstuhl fristeten, zu revidieren ist. Auch für Frauen standen zahlreiche Botengänge, gesellschaftliche Anlässe und Aufgaben an, bei denen sie sich in der Öffentlichkeit bewegten. Das Bild der sich umfassend sportlich und militärisch betätigenden spartanischen Frauen muss andererseits ebenfalls in den Bereich der Fantasie verwiesen werden. Hier handelte es sich um gezielte Einsätze einer ausgewählten Schicht von Mädchen, die im Rahmen von Initiationsfeiern rituelle Wettläufe und musische Reigentänze aufführten, um danach eine geordnete Ehe einzugehen.

Vom Parisurteil zur Misswahl

Die antike Gesellschaft entwickelte die Zweiteilung von Körper und Seele und wies dabei dem Körper eine untergeordnete Stellung zu. Dies steht im Gegensatz zur antiken Lebenspraxis und Bildwelt, welche sich intensiv mit dem Körper auseinandersetzten. Für die althistorische Forschung stellt sich die Aufgabe, die verschiedenen Bedeutungen des menschlichen Körpers vom frühen Griechenland bis in die Spätantike (8. Jahrhundert v.Chr. bis 5. Jahrhundert n.Chr.) zu beleuchten. Dabei wird auch deutlich, wie die Römer die griechischen Körpervorstellungen weiterentwickelt haben und welche Konsequenzen das Christentum aus den antiken Traditionen gezogen hat. Christliche Vernachlässigung des Körpers und Askese können dabei auf griechische Philosophien zurückgreifen, welche das Gewicht viel mehr auf das Geistige als auf das Körperliche gelegt haben: Diogenes hat durch seine Lebensweise bis heute Berühmtheit erlangt.

Mit solchen – hier nur ansatzweise vorgebrachten – Überlegungen und Einwänden müssen es die Historiker letztlich ihren Adressaten überlassen, ob sie den dargelegten Gedanken folgen und bereit sind, aus den überprüfbaren Argumenten dieselben Schlüsse zu ziehen. Die antike Gesellschaft bietet jedenfalls auch ohne direkten, systematischen Vergleich mit der Moderne eine geeignete Basis der Analyse, Reflexion und Erkenntnis. Die Bedeutung des im Mythos verankerten Parisurteils ging schon insofern wesentlich weiter als moderne Misswahlen, als es den Krieg um Troja zur Folge hatte.