News175 Jahre UZHAgendaVeranstaltungenFakultätstageAusstellungenBlog

jubiläumstram

Zur Autorin

Angela Zimmermann ist Mitherausgeberin des im April im Verlag hier + jetzt erschienenen Text-/Bildbandes «Zürich 68. Kollektive Aufbrüche ins Ungewisse» und schrieb zuvor eine Lizenziatsarbeit bei Jakob Tanner mit dem Titel: «Maoisten in der Schweiz». Bis April 2008 arbeitete sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der UniFrauenstelle – Gleichstellung von Frau und Mann.

Stimmt es, dass die 68er politisch scheiterten?

Von Angela Zimmermann

In jüngster Zeit tendiert der Diskurs über die Wirkungen der 68er-Bewegung in die Richtung: kulturell erfolgreich, politisch gescheitert. Wie bei allen Zuspitzungen lohnt sich auch hier ein genauerer Blick beziehungsweise eine Differenzierung des Politikbegriffs. Die meisten 68erinnen und 68er glaubten zunächst an die Möglichkeit einer politischen und ökonomischen Umwälzung des bürgerlich-kapitalistischen Systems. Die SP und die PdA, die parlamentarische Politik betrieben, galten als reformistisch und revisionistisch. Die Neue Linke organisierte sich in der ausserparlamentarischen Opposition. Am ernsthaftesten und längsten von all diesen als sehr heterogen zu bezeichnenden Akteuren der 68er-Bewegung glaubten die linksrevolutionären Gruppen an die politische Grossrevolution – in Zürich zum Beispiel die Revolutionäre Aufbauorganisation Zürich (RAZ) oder die Kommunistische Partei der Schweiz/Marxisten-Leninisten (KPS/ML), aber auch die in Basel gegründeten Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH) und die Revolutionäre Marxistische Liga (RML). Diese sogenannten K-Gruppen arbeiteten bis weit in die 70er-Jahre an ihrem Ziel, die sozialistische Revolution mittels Parteiaufbau zu erreichen. Das heisst, sie versuchten – in Anlehnung an die Modelle der Dritten Kommunistischen Internationalen (Komintern 1919–1943) – ihre Sympathisantinnen und Sympathisanten rund um eine zentralistisch geführte Avantgarde-Partei mit Politbüro, Zentralkomitee und geheimen Zellen zu organisieren. Ziel war die Übernahme der politischen Herrschaft durch eine Kommunistische Partei. Unter Berufung auf Lenin erklärten sie das Industrieproletariat zum revolutionären Hauptsubjekt. Konkret buhlten nun die verschiedenen Linksgruppen jahrelang morgens um fünf Uhr vor den damals in Zürich noch existierenden Fabriktoren um die Gunst der Fabrikarbeiterschaft.

Desinteresse der Arbeiterschaft

Trotz stagnierendem Parteiaufbau, trotz Überwachung und Verhaftungen seitens des Staatsschutzes, trotz Desinteresse bis Feindschaft eines Grossteils der Arbeiterschaft glaubten diese «Politkader» jahrelang an die Strategie des ausserparlamentarischen Parteiaufbaus. Solange, bis ab Mitte der 70er-Jahre immer offensichtlicher wurde, dass der Aufbau nicht gelingen würde beziehungsweise sich eine politische Revolution nicht einmal in Ansätzen abzeichnete. Die K-Gruppen lösten sich auf oder wandten sich wie die POCH oder die RML (später SAP) den einst von der ausserparlamentarischen Opposition verachteten Instrumenten der direkten Demokratie zu; sie beteiligten sich mit kleinen Erfolgen an Wahlen und Abstimmungen, um politisch etwas zu bewegen, und begaben sich somit ebenfalls auf den Marsch durch die Institutionen, den ein Teil der 68er schon zu Beginn der 70er-Jahre angetreten hatte, in dem sie beispielsweise in grosser Zahl der SP beigetreten waren. Am eigenen Anspruch gemessen, das bürgerlich-kapitalistische System zu stürzen, lässt sich hier durchaus von einem Misserfolg sprechen.

Fasst man dagegen die Politisierung des Alltags ins Auge nimmt sich die 68er-Bilanz keineswegs so bescheiden aus. Denn die 68erinnen und 68er versuchten nicht nur und je länger je weniger «das System» zu stürzen, sondern politisierten eben gerade das, was bis anhin kaum als politisch galt: Neben Zukunftsweisenden Neuerungen in den Kunstbereichen Musik, Theater, Film und Malerei politisierten sie vor allem Lebens- und Verhaltensweisen: Sie revolutionierten die sogenannte Alltagskultur – allen voran wirkten die Frauen in diese Richtung. Weit davon entfernt, sich allein für das immer noch fehlende Frauenstimm- und wahlrecht einzusetzen, versuchten sie ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass bürgerliches Rollenverhalten der Frauen – Kinder, Küche, Kirche und Konsum – keine Privatsache, sondern Ausdruck patriarchalischer Gewalt im kapitalistischen System sei. Sie definierten mit ihrem Kampfspruch «das Private ist politisch» den Politikbegriff neu und setzten somit Themen wie unbezahlte Hausarbeit, Schwangerschaftsabbruch, Kindererziehung, Sexualität oder häusliche Gewalt auf die politische Agenda. Aber nicht nur die Feministinnen brachten bürgerliche Rollenmuster und Lebensstile ins Wanken. Zu einer Zeit, als das Konkubinatsverbot noch bestand, experimentierte beispielsweise die Kommunebewegung mit neuen Wohnformen, die heute allgemein akzeptiert sind. Versuche mit antiautoritärer Erziehung in den freien Kindergärten beeinflussten die herkömmliche pädagogische Praxis nachhaltig. Die aus der Zürcher Bunkerbewegung entstandene Heimkampagne brachte kollektive Wohnformen im Sinn von betreuten Wohngemeinschaften in die Debatte des Jugendstrafvollzugs ein.

Revolutionierung der Alltagskultur

Ein kulturgeschichtlicher Blick auf 1968 erhellt somit eine breite Palette von alltagspolitischem Handeln, das die bürgerliche Gesellschaft nachhaltig verändert hat. Die Frage, ob die 68er politisch scheiterten, lässt sich also je nach Politik-Definition mit Nein und Ja beantworten. Versteht man unter «politisch erfolgreich» lediglich die Umwälzung des politischen Parteiensystems, sind die 68er grandios gescheitert. Hingegen sind zuvor als Privatprobleme erachtete Aspekte von Alltagskultur durchaus politisiert und dabei modernisiert worden.