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Mehr zum Nationalen Forschungsprogramm «Kinder, Jugend und Generationenbeziehungen im gesellschaftlichen Wandel» unter www.nfp52.ch

Was Kinder über häusliche Gewalt wissen

Kinder und Jugendliche wissen mehr über häusliche Gewalt, als die Erwachsenen glauben. Corinna Seith vom Pädagogischen Institut hat als erste Forscherin im deutschsprachigen Raum Kinder und Jugendliche direkt befragt.

Von Paula Lanfrancont

Der erste Anrufer war ein türkischer Vater. Er bekannte, er habe seine Frau geschlagen. Man könne kommen und ihn und seine Familie befragen. Corinna Seith war erstaunt – die Leiterin der Nationalfondsstudie zur häuslichen Gewalt aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen hatte Frauenhäuser und Opferhilfestellen kontaktiert, um von häuslicher Gewalt betroffene Frauen und Kinder ausfindig zu machen. Und jetzt meldete sich ein Mann. «Zuerst war ich misstrauisch», erzählt die Wissenschaftlerin. Doch der Familienvater habe ihre Bedingungen akzeptiert: getrennte Befragung aller Familienmitglieder und Vertraulichkeit.

Solche Interviews mit von häuslicher Gewalt betroffenen Familien ergänzen die grossangelegte schriftliche Befragung, die Seith zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Irene Böckmann durchgeführt hat: Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) 52 «Kindheit, Jugend, Generationenverhältnisse im gesellschaftlichen Wandel» haben sie im Kanton Zürich 1400 Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 17 Jahren schriftlich befragt und mit 29 Mädchen und Jungen zwischen 8 und 18 Jahren und ihren Müttern Interviews durchgeführt. Ergänzt wurde diese Erhebung durch Gespräche mit Mitarbeiterinnen von Frauenhäusern und Opferhilfestellen in den Kantonen Bern, Luzern und Zürich. Die 2006 abgeschlossene, multimethodologisch angelegte Untersuchung ist eine Premiere im deutschsprachigen Raum.

Die Befragung förderte Überraschendes zu Tage: So hatten 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler schon von häuslicher Gewalt gehört. Die Probleme mit Gewalt innerhalb der Familie vertrauen die Schülerinnen und Schüler am ehesten ihren Geschwistern, Gleichaltrigen, den Grosseltern und dem Sorgentelefon an. Lehrpersonen gegenüber sind sie sehr skeptisch. Ein 14-jähriges Mädchen schrieb: «Lehrer sind einfach Lehrer und somit ‹Quälpersonen›. Man will nicht, dass sie wissen, was zu Hause abgeht.» Und eine Dreizehnjährige befürchtete, Lehrpersonen könnten dem Jugendamt Bescheid sagen und die Kinder von den Eltern wegholen.

Die Schule spielt auch bei der Vermittlung des Wissens über häusliche Gewalt nur eine untergeordnete Rolle, sie rangiert erst an zweitletzter Stelle – anders als in England, wo sie an zweiter Stelle steht. Die wichtigste Informationsquelle sind die Medien. Die Schule sollte mehr Verantwortung übernehmen, findet Corinna Seith. Sie empfiehlt, das Thema Gewalt in Geschlechterbeziehungen in die Lehrpläne aufzunehmen. Der Forscherin fällt auch auf, dass die Schere zwischen den Geschlechtern extrem auseinander geht: Neun- bis Elfjährige sind auf einem ähnlichen Kenntnisstand, doch ab zwölf nimmt das Wissen der Mädchen stark zu, während jenes der Jungen stagniert. Für die Praxis, betont Seith, bedeute dies, dass die Präventionsarbeit nicht erst in der Pubertät, sondern bereits bei den Neunjährigen beginnen sollte.

Wie erleben Kinder und Jugendliche häusliche Gewalt? Ein Teil ist selber direkt von physischer Gewalt betroffen, andere beschrieben, welchen Turbulenzen sie ausgesetzt waren, wie bedrohlich für sie die Situation oft war, auch wenn nicht sie selbst, sondern «nur» die Mutter geschlagen wurde. Internationale Studien zeigen, dass zwischen 10 und 30 Prozent aller Kinder und Jugendlichen im Verlauf ihrer Kindheit Zeugen von häuslicher Gewalt werden. Zwischen 30 und 60 Prozent dieser Kinder erlebten auch selber Misshandlungen. Von ihnen zeigen 35 bis 45 Prozent klinische Auffälligkeiten. Seith kommt zum Schluss: «Damit es nicht zu chronischen Störungen kommt, sollte die Situation der Kinder möglichst parallel zur Beratung der Mütter abgeklärt werden. Und es sollten spezifische Unterstützungsangebote für die Kinder entwickelt werden.» Solche gibt es in der Schweiz bisher nicht. Baden-Württemberg ist bereits ein Stück weiter. Auf Grund von Seiths Studien hat man dort das Aktionsprogramm «Kinder als Zeugen häuslicher Gewalt» gestartet, das sie wissenschaftlich begleitet.

Das Problem sei, konstatiert Corinna Seith, dass die verschiedenen Misshandlungsformen oft separat betrachtet werden. Dabei gebe es häufig Überschneidungen zwischen Kindesmisshandlung, sexueller Ausbeutung und häuslicher Gewalt. Diese müssten deshalb auch gemeinsam angegangen werden: «Bei häuslicher Gewalt sind die Eltern oft nicht einfach nur überfordert und hilfebedürftig, sondern es gibt ein Machtgefälle zwischen den Geschlechtern und eine klare Täter-Opfer-Struktur. Wenn man das nicht berücksichtigt, verkennt man auch, dass eine Mutter ihr Kind gar nicht schützen kann, weil sie selber von Gewalt betroffen ist.» Deshalb müsse dieses Problem zuerst angegangen werden: «Der Schutz der Mutter ist der beste Kinderschutz», bringt sie es auf den Punkt. Kinder, ist Seith überzeugt, seien eine gute Möglichkeit, Schieflagen im Geschlechterverhältnis zur Sprache zu bringen.

Für Seith ist es wichtig, dass mit ihren Forschungsergebnissen etwas passiert. Wenn sie ihre Arbeit präsentiert, stellt sie immer wieder fest, dass auch gestandenen Praktikern aus der Jugendhilfe, die sich in ihrem Alltag mit Fällen von sexueller Ausbeutung und Kindesmisshandlung befassen, die Augen aufgehen.