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Die Faust im Sack

Schafft Ungleichheit zwingend Konflikt und Gewalt? Nein, sagen drei Zürcher Sozio logen und stellen mit den Erkenntnissen aus ihrem dreijährigen Forschungsprojekt eine jahrtausendealte Binsenwahrheit in Frage.

Von Michael Ganz

«Eine kritische Sozialwissenschaft muss imstande sein, Glaubenssätze zu hinterfragen, zu überprüfen und nötigenfalls zu entkräften », sagt Volker Bornschier, Professor für Soziologie an der Universität Zürich. Und liefert gleich auch den Beweis. Was schon den alten Griechen als selbstverständlich erschien und seither als unumstösslich galt, nämlich, dass wachsende soziale Ungleichheit in der Regel zu gewaltsamem Aufstand führt, haben Bornschier und sein Forschungsteam grösstenteils widerlegt. Ungleichheit, so ihr Fazit, wird von den Betroffenen verschieden wahrgenommen; sie löst denn auch nicht zwingend offene Konflikte aus, birgt aber ein latentes Konfliktpotenzial, das es noch zu erforschen gilt.

Volker Bornschier befasst sich schon lange mit Themen rund um die soziale Ungleichheit. Als die Weltbank – und mit ihr zahlreiche Ökonomen – in den Neunzigerjahren vor den Folgen sozialer Ungleichheit zu warnen begann, traute Bornschier der Sache nicht so recht. Stimmte das, was die Weltbank behauptete? Reichte es, Ungleichheit und ihre Folgen in harten Zahlen zu messen? Deckten sich die Warnungen der Wirtschaft mit der subjektiven Wahrnehmung Betroffener? Und war es tatsächlich so, dass Ungleichheit zwingend Protest und Gewalt nach sich zog? «Da tat sich eine riesige Forschungslücke auf», erinnert sich Bornschier.

Im Rahmen eines dreijährigen Nationalfonds- Projekts untersuchte Volker Bornschier mit Hilfe seiner Mitarbeiter Hanno Scholtz und Thomas Volken rund dreissig – wie die Soziologen sagen – Gesellschaften. Das Team benutzte dabei verfügbare Statistiken Dritter: Zahlen der Weltbank zu Einkommensunterschieden, Zahlen des International Social Survey Program zu subjektiv empfundener Ungerechtigkeit, Zahlen aus den Arthur-Banks-Archiven zur Häufigkeit von politischen Konflikten und Gewalt.

Vorerst ging es den Forschern um die soziale Ungleichheit. Sie nimmt weltweit mehrheitlich zu, selbst wenn sie in der Schweiz vergleichsweise konstant bleibt, in Portugal und Spanien gar abnimmt – letzteres, weil die beiden iberischen Länder noch im Begriff sind, sich von Agrar- zu Industriestaaten zu wandeln. Gemessen wird soziale Ungleichheit weltweit mit dem Gini-Koeffizienten, der Abweichungen von einem theoretischen Einkommens-Soll beziffert. Dabei wird Einkommensungleichheit oft mit Einkommensungerechtigkeit gleichgesetzt. «Ein Irrtum», sagt Thomas Volken. «Der Gini-Koeffizient geht von einer Gleichverteilung aus, doch viele Betroffene setzen eine solche gar nicht voraus.»

UNGLEICH IST NICHT IMMER UNGLEICH

Tatsächlich, so fanden die drei Soziologen, wird Ungleichheit in verschiedenen Kulturen unterschiedlich wahrgenommen und bis zu einem gewissen Grad auch akzeptiert. Die Forscher verglichen deshalb die herkömmlich erhobene objektive Ungleichheit mit der subjektiven Wahrnehmung ungerechter Einkommensverteilung in verschiedenen Berufsgruppen und stellten fest, dass sich die Resultate nicht deckten. Was der Gini-Koeffizient als ungerecht bezeichnet, muss für Betroffene nicht ungerecht sein; die Unterschiede zwischen objektiv gemessener und subjektiv wahrgenommener Ungleichheit sind demnach beträchtlich.

Und wie steht es nun mit den Folgen dieser Ungleichheit? Gilt der Leitsatz der Ökonomen aus den Neunzigerjahren, wonach Ungleichheit das Wachstum eines Landes hemmt, tatsächlich? Beispiele aus den Achtzigerjahren mögen diese Gleichung belegen: Lateinamerika mit grosser Ungleichheit und kleinem Wachstum auf der einen, Ostasien mit kleiner Ungleichheit und grossem Wachstum auf der anderen Seite. Inzwischen gibt es aber prominente Gegenbeispiele. «England und die USA», sagt Hanno Scholtz, «liessen stets viel Ungleichheit zu und sind dennoch gewachsen. Umgekehrt stagnierten Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland und Österreich, obwohl sie stets auf Gleichheit bedacht waren. Ganz im Gegensatz zum heutigen Brasilien: Das Land wächst – trotz seiner hohen sozialen Ungerechtigkeit.»

Bleibt die Frage des Konflikts. Ungleichheit schürt Unzufriedenheit, und diese führt zu Auflehnung, Umsturz, Gewalt – so jedenfalls besagt es ein aus der Antike überlieferter Glaubenssatz. Weshalb denn, so fragten sich Bornschier und sein Team, geht bei weltweit zunehmender Ungleichheit die Zahl politisch bedingter, also terroristischer und kriegerischer Ereignisse zurück? «Ich weiss, das mag unglaubhaft klingen, aber es ist so», sagt Bornschier und belegt seine Behauptung mit Statistiken aus seinem 2007 erschienenen Buch über Konflikt, Gewalt und Kriminalität im Zeit- und Gesellschaftsvergleich: Seit 1992 nehmen die Zahl bewaffneter Konflikte und auch die Opferzahlen auf der ganzen Welt deutlich ab. Weniger Konflikt trotz wachsender Ungleichheit – ein Paradox, das es zu klären galt.

Die Soziologen gingen dabei denselben Weg wie bei der Ungleichheit: Sie unterschieden zwischen objektiv messbaren Ereignissen und der subjektiven Wahrnehmung von Konflikt. Und kamen zum gleichen Resultat. Die subjektive Konfliktwahrnehmung des einzelnen Betroffenen ist weit entfernt von dem, was tatsächlich auf der Welt geschieht. Die einzige zwingende Beziehung in diesem Viereck von objektiv-subjektiver Ungleichheit und objektivsubjektivem Konflikt fanden die Forscher auf der Wahrnehmungsebene: «Die subjektive Konfliktwahrnehmung steigt mit der subjektiven Wahrnehmung von Ungleichheit. Die objektive Ebene spielt da kaum hinein», bilanziert Bornschier.

Die Bilanz mag auf Anhieb nutzlos klingen, doch birgt gerade sie die wichtigste Erkenntnis des Forschungsprojekts: Konflikte, die auf sozialer Ungleichheit beruhen, müssen sich nicht zwingend äussern, sind aber im subjektiven Empfinden latent vorhanden – als tickende Konfliktbomben gewissermassen. «Nur die Wenigsten gehen gleich auf die Strasse, wenn sie nicht zufrieden sind», sagt Volker Bornschier, «die meisten machen die Faust im Sack.» Damit ein politischer Konflikt tatsächlich manifest werde, bedürfe es zusätzlicher Bedingungen – Prozesse ideologischer Kollektivierung und Mobilisierung etwa, die sehr viel Zeit benötigten, um in Gang zu kommen.

VERSCHLEIERNDER RECHTSPOPULISMUS

Man kann den latenten Ungleichheitskonflikt aber auch mit politischem Kalkül ersticken. Dies gelingt etwa dem Rechtspopulismus in vielen Ländern Europas, nicht zuletzt auch in der Schweiz. «Die rechtspopulistische Politik verschleiert das Problem der inneren Ungleichheit und damit auch jenes des latenten inneren Konflikts», erklärt Bornschier. «Die Botschaft der Populisten lautet: Wir Schweizer sind alle gleich, nur die anderen sind anders und gefährlich.» So werde erfolgreich verhindert, dass latente Konflikte – beispielsweise aufgrund der Einkommensschere – aufbrechen. Der seit Jahren anhaltende Erfolg ethnonationaler Kräfte, so vermutet der Zürcher Soziologieprofessor, dürfte die Wahrnehmung und die kritische Bewertung sozialer Ungleichheit innerhalb der eigenen Gesellschaft bereits deutlich getrübt haben.

Solches zu erkennen sei unter anderem die Aufgabe der Sozialwissenschaft, sagt Volker Bornschier. «Unser Verständnis davon, warum ein subjektiv-latenter Ungleichheitskonflikt nicht zwingend in einen objektiv-manifesten Konflikt umschlägt, ist noch viel zu klein.» Auch müsse eine prognosefähige Sozialwissenschaft erkennen können, wann und unter welchen Bedingungen ein latenter Ungleichheitskonflikt manifest wird. Bornschier: «Wir Soziologen sollten nicht nur die Vergangenheit erklären, sondern Szenarien für die Zukunft entwickeln. Ziel unserer Forschungsarbeit war es deshalb, den Zeigefinger hochzuhalten und zu warnen: Es ist nicht immer so, wie alle sagen.»