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Inzestuöse Steinböcke

Alle Schweizer Steinböcke stammen von wenigen Gründertieren ab. Hat dies einen Einfluss auf ihren Gesundheitszustand? Lukas Keller und sein Team untersuchen diese Frage und beantworten zugleich grundlegende Probleme der Evolutionsbiologie.

Von Matthias Meili

Gene oder Umwelt, Vererbung oder Erziehung, «nature or nurture» – diese Debatte wird seit Jahrzehnten geführt. «Diese Grundsatzdiskussion hat mich immer fasziniert, weil sie für alle Bereiche des Lebens wichtig ist», erklärt Lukas Keller, Populationsgenetiker am Zoologischen Museum der Universität Zürich. «Doch die Fragestellung ist veraltet. Heute ist völlig klar, dass es immer die Umwelt und die Gene in Kombination sind, die ein Merkmal beeinflussen. Ich möchte von dieser unglücklichen Dichotomie wegkommen.»

Seit 15 Jahren studiert der gebürtige Basler eine einige Dutzend Tiere zählende Kolonie von Singvögeln auf einer kleinen 600 Meter langen und 100 Meter breiten Insel vor Vancouver. Dort kennt er praktisch jede Singammer persönlich, weiss wie alt seine Schützlinge sind, wie es ihnen gesundheitlich geht, wer von wem abstammt und wann etwa ein fremder Vogel vom Festland herübergekommen ist. Die Kernfrage in Kellers Singammern- Projekt gilt der Inzucht in kleinen Populationen: Schadet die Paarung zwischen nahe verwandten Individuen, die in derart kleinen Gruppen unvermeidlich ist, der Fitness der Individuen oder gar der ganzen Population?

Auch hier spielt das Zusammenwirken von Umwelt und Genen eine Rolle. Dass Inzucht in der Landwirtschaft – also in relativ eintönigen Umgebungen wie einem Kuhstall oder in der Pflanzenzucht mit ihren Monokulturen – häufig vorkommt und die genetische Fitness schwächen kann, wusste man schon lange. Dass sie aber auch in freier Wildbahn existiert, wurde lange Zeit abgestritten. Man glaubte, die Natur merze solche die Fitness einschränkende Effekte aus, bevor man sie bemerkt – ganz wie es der weit verbreiteten Vorstellung einer sich selbst im Gleichgewicht haltenden Natur entspricht. Lukas Keller war der Erste, der anhand seiner minutiösen Untersuchungen an den Singammern zeigen konnte, dass schädliche Inzucht auch in der Natur geschieht.

Vor kurzem hat Keller mit seiner Doktorandin Iris Biebach nun ein Steinbockprojekt in der Schweiz gestartet, das nicht nur zu grundlegenden Erkenntnisse führen, sondern ganz direkt dem Naturschutz dienen soll. Seit einigen Jahren geht es dem «König der Alpen» nämlich nicht gut. Einige Kolonien werden immer kleiner. Weshalb, weiss man nicht so genau. Räuber sind trotz vereinzeltem Auftauchen des Wolfes nicht hinzugekommen und Infektionskrankheiten konnten nur bei einzelnen vom Rückgang betroffenen Kolonien festgestellt werden.

Vielleicht ist Inzucht der Grund? «Schon möglich », meint Lukas Keller, «denn die ganze heute 14 000 Tiere zählende Steinbockpopulation der Schweiz stammt von nicht einmal 100 Tieren ab, die Anfang des vergangenen Jahrhunderts aus dem italienischen Nationalpark Gran Paradiso zur Wiederansiedlung importiert worden sind.» Das bedeutet, dass alle Schweizer Steinböcke genetisch sehr nahe verwandt sind. Kommt hinzu, dass die Natur bei Huftieren keine Strategie zur Inzuchtvermeidung vorgesehen hat, wie etwa beim Menschen, bei anderen Primaten oder auch bei Mäusen. Weil sich Lukas Keller in Inzuchtfragen spezialisiert hat, wurde er vom Bundesamt für Umwelt sowie von den 13 Kantonen mit Steinbockbesiedlung um Hilfe gebeten. Mit modernsten Genanalysen (Mikrosatelliten) werden nun die Verwandtschaftsverhältnisse der Schweizer Steinböcke abgeklärt und der Grad der Inzucht bestimmt. Letztlich möchten die Forscher prüfen, ob die Inzucht mit einer allfälligen erhöhten Krankheitsanfälligkeit der einzelnen Individuen und der Populationen korreliert. Ein Mass dafür ist der Wurmbefall im Darm, weshalb bei einzelnen Steinböcken auch noch die Anzahl Würmer in den Fäkalien gemessen wird. Bisher hat sich gezeigt, dass sich die Steinböcke der Schweiz in drei Gruppen aufteilen lassen. Sie stammen je von einer der Gründerkolonien ab, die nach der Einfuhr aus Italien gebildet wurden: eine Ostschweizer Sippe im Alpstein, Bündnerland und Tessin, die Rhone- Nord-Sippe mit den Berner und Walliser Tieren, die nördlich der Rhone hausen, sowie eine Rhone- Süd-Sippe mit den Walliser Steinböcken, die südlich der Rhone leben. Diese Gruppen vermischen sich kaum und der Grad der Inzucht in den einzelnen Sippen ist unterschiedlich hoch. Ob die Inzucht auch am Populationsrückgang schuld ist, wird sich erst nach der Auswertung aller Daten zeigen.

Inzucht ist und bleibt eines der grossen evolutionsbiologischen Probleme und schon der Begründer der Evolutionstheorie, Charles Darwin, hat ein ganzes Buch darüber geschrieben. Letztlich steckt dahinter auch die Frage, wie sich eine Art neu bildet, denn «am Anfang einer Art stehen jeweils nur sehr wenige Individuen», sagt Lukas Keller. Genau das fasziniert Keller über die Belange des Naturschutzes hinaus. Der Forscher geniesst auch immer wieder die Feldarbeit, die mit allen seinen Projekten verbunden ist – auf den Galapagos, vor Vancouver oder auch nur im Wallis. «Im Feld, im direkten Kontakt mit den Tieren, die ich erforsche, kommen mir eigentlich erst die richtigen Ideen», schwärmt Keller. «Ohne diese Feldarbeit wäre ich nicht Biologe.»