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Zum Autor

Mario Gmür ist Psychiater und Psychotherapeut sowie Privatdozent an der Universität Zürich. Er ist Autor des Buches «Die Unfähigkeit zu zweifeln. Welche Überzeugungen wir haben und wann sie pathologisch werden», Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2006.

Stimmt es, dass Wissen dumm machen kann?

Von Mario Gmür

Die provokative These, dass Wissen dumm mache, muss Sokrates zu seinem souveränen Understatement gebracht haben: «Ich weiss, dass ich nichts weiss.» Er klagte damit Hochmut und Borniertheit an. Im Zeitalter der Aufklärung hat sich das Wissen an die Stelle des Glaubens an Gott gesetzt. Mit der Entschlüsselung der Geheimnisse der Natur ist es der Naturwissenschaft gelungen, dem Schöpfer auf die Schliche zu kommen, und sie hat viele Kräfte des Universums bezwungen. Der Wissenserwerb ist die intellektuelle Form der Weltaneignung. Er macht uns zu Eroberern des Universums, zu Gebietern über Makro- und Mikrokosmos. Der Fortschritt zeigte jedoch schon bald auch seine destruktive Kehrseite: Wissen führt oft zu Besserwisserei, manchmal gar zu Fanatismus.

In meinem Buch «Die Unfähigkeit zu zweifeln» habe ich aus neurologischer, psychiatrischer und psychodynamischer Sicht Überzeugungskrankheiten beschrieben. Zum einen sind es solche, bei denen Überzeugung zur Krankheit wird, wie Amoklauf, Sektenabhängigkeit, Satanismus, Antisemitismus, Liebes- und Eifersuchtswahn (Othello-Syndrom), Folie à deux, Pseudologia fantastica, False-Memory-Syndrom. Zum andern sind es solche, bei denen die Krankheit zu irrigen Überzeugungen führt wie bei Schizophrenie, manisch-depressivem Kranksein, hirnorganischen Veränderungen oder Autismus.

Die These, die ich im Buch vertrete und illustriere, besagt, dass wir uns in der Bildung unserer Überzeugungen oft in der Illusion der Eigenbestimmung und Authentizität wiegen, wir aber weitgehend fremdbestimmt sind, geleitet von inneren und äusseren Einflüssen. Wir sind abhängig von der Struktur unseres Gehirns, von der Funktionsweise unserer Wahrnehmungsorgane, von der Kraft der Gefühle und der Symbolik, von gruppen- und massenpsychologischen Vorgängen und auch von psychodynamischen Wirkkräften wie zum Beispiel dem Wunsch nach Sinn- und Identitätsstiftung, nach Halt und Orientierung, etwa durch Identifikation mit Idolen und Aufgehobensein in einer Ideologie, die unser Wahrheitsbedürfnis stillt. Überzeugung ist oft mehr Ausdruck eines Überzeugungsbedürfnisses als Abbild der Wahrheit.

Gefährliche Sehnsucht nach Eindeutigkeit

Zu voreiligen und fixierten Überzeugungen neigen vor allem Menschen, die eine starke Intoleranz gegenüber «Ambiguität» aufweisen - um hier einen Begriff von Else Frenkel-Brunswick zu verwenden. Die hochgradig ambiguitätsintolerante, auf Eindeutigkeit bedachte Person zeigt in Testuntersuchungen eine deutliche Vorliebe für Vertrautheit, Symmetrie, Bestimmtheit und Regelmass sowie die Tendenz zu Schwarz-Weiss-Lösungen und stark simplifizierenden Dichotomien. Sie reagiert bei sozialen Beurteilungen stereotypisierend mit Alles-oder-Nichts-Klassifikationen und ignoriert die Zwischentöne. Die Ambiguitätsabwehr dient der existenziellen Suche nach der Gewissheit einer Gesamtordnung des Seins und nach einer endgültigen Erlösung von der Unbeständigkeit des eigenen unvollkommenen Seins.

Die Unfähigkeit, den Zustand der Ungewissheit zu ertragen, äussert sich am deutlichsten im fanatischen Seelenzustand mit der übertrieben leidenschaftlichen Gefühlsbetontheit. Beim Gerechtigkeitsfanatismus wird eine persönliche Kränkung in eine Terminologie der edlen Gesinnung umformuliert. Beim Sittlichkeitsfanatismus werden die sexualmoralischen Erwartungen übersteigert, um eine akute Triebdurchbruchgefahr abzuwehren. Beim religiös-weltanschaulichen Wahrheitsfanatismus wird der eigene Selbstwert vor Beschädigungen geschützt.

In Anlehnung an die Theorie der Ambiguitätsabwehr habe ich die These formuliert, dass die Unfähigkeit zu zweifeln unsere Psyche nötigt, die Identität als Sitz von Überzeugung stabil zu halten. Ich habe acht identitätsstiftende Mechanismen (ISM) ausgemacht, die bei allen psychischen Vorgängen integrationsaktiv am Werk sind und die Abwehrmechanismen, welche die Psychoanalyse beschreibt, logistisch unterstützen: Schliessen (als zentraler Mechanismus analog zur Verdrängung bei den Abwehrmechanismen), Bilanzieren, Vergewissern, Konservieren, Etikettieren, Kohärieren und Akzentuieren. Wir erkennen solche integrativen Verfestigungskräfte beispielsweise in Äusserungen von schizophrenen Psychotikern, etwa wenn sie in ihren Bildern die Aussenlinien verstärken, Zeichnungen benennen oder spontan Aussagen mit Ausrufungszeichen und Unterstreichungen verstärken. Dies als Massnahmen gegen bedrohliche Auflösungserscheinungen.

Staunen als Ursprung der Philosophie

So, wie der Mangel an Zweifel zu Überzeugungskrankheiten führen kann, so kann umgekehrt die Unfähigkeit, Zweifel zu überwinden und Überzeugung zu produzieren, einen quälenden Zustand, ein Überzeugungsmangelsyndrom hervorrufen. Dieser zeigt sich in Antriebsarmut, allgemeiner Schwäche und einem Defizit an Entscheidungskraft. Der Zweifel kann in den Abgrund führen, in einen zerstörerischen Skeptizismus, wenn alles und jedes bezweifelt wird. Und der Zweifel kann auch bewusst missbraucht werden in Form konsequenter Überzeugungsabstinenz aus Mutlosigkeit und Feigheit.

Der konstruktive Zweifel aber ist nicht eine Haltung der störrischen Abstinenz, sondern eine im Affekt des Staunens wurzelnde Einstellung. Das Staunen ist nach Platon und Aristoteles der Ursprung der Philosophie und der Wissenschaft als fragender Wahrheitssuche. Es hebt die Dinge gleichsam aus ihrer Selbstverständlichkeit heraus und macht sie befragbar und hinterfragbar. Es bringt die Theoriebildung auf den Weg. Zweifeln ist nicht nur eine Methode der Kritik, sondern eine elementare Voraussetzung von Wahrnehmung, Wissenserwerb und Überzeugungsbildung überhaupt. Das Zweifeln ist die intelligente Geburtshelferin des Wissens. Und das Wissen macht nicht dumm, wenn es sich auf seinen Ursprung im Staunen besinnt.