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Alpkäse aus der Bronzezeit

Gab es vor 3500 Jahren schon Sennen? Wie lebten die Bewohner des Alpenraums in frühgeschichtlicher Zeit? Mit einem interdisziplinären Nationalfondsprojekt sucht Prähistoriker Philippe Della Casa umfassende Antworten.

Von Michael T. Ganz

FÜR DEN LAIEN ist der Mött Chiaslasc beim Weiler Airolo-Madrano ein grasbewachsener Hügel wie tausend andere auch. Nicht so für den Fachmann: «Die kleine Erhebung sah einfach gut aus», erinnert sich Philippe Della Casa, Professor für Ur- und Frühgeschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich und Leiter des Nationalfondsprojekts «Leventina – prähistorische Siedlungslandschaft. Besiedlung, Umwelt und Wirtschaft im alpinen Tessintal 1500 vor bis 15 nach Chr.». Mit Institutsmitarbeitenden und den Tessiner Kantonsarchäologen war Della Casa im Frühling 2003 auf der Suche nach geschichtsträchtigen Orten zwischen Bellinzona und dem Gotthard unterwegs, als er den Mött Chiaslasc zum ersten Mal wahrnahm. Ein Felsriegel in einer Talenge, natürlich befestigt, markant gelegen und von terrassiertem Nutzgebiet umgeben – alles deutete darauf hin, dass der Mött Chiaslasc wohl schon früh besiedelt war. Della Casas Vermutung bestätigte sich, als er bei der Begehung auf Tonscherben trat.

Wenige Monate später begann die Sondage. Unter der Leitung einer wissenschaftlichen Assistentin rückten fünf Zürcher Studierende dem Mött Chiaslasc in einem zweiwöchigen Feldkurs zuleibe. Sie hoben einen fünf Meter langen und eineinhalb Meter tiefen Graben aus. Darin fanden sich vor allem Mauersteine, die zwar auf Siedlungsreste hinwiesen, aber nicht datierbar waren. Dreizehn Tage lang ging das so; der anfängliche Enthusiasmus wich allmählich der Ernüchterung. Doch dann kam das filmreife Ende: Am letzten Tag der Sondiergrabung zog jemand eine auffällige Tonscherbe aus der Erde, und bald stand zweifelsfrei fest: Der Fund stammte aus der Bronzezeit. «Damit», sagt Della Casa, «war klar, dass wir in Madrano weitergraben würden.»

Philippe Della Casa hoffte, auf dem Mött Chiaslasc eine frühgeschichtliche Siedlung zu finden. Beim Bau der Gotthardbahn war man in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf zahlreiche antike Gräberfelder gestossen, allein die dazugehörigen Siedlungen blieben weitgehend unentdeckt. Der Kanton Tessin zeigte deshalb grosses Interesse, als der Archäologieprofessor aus Zürich mit seinem Leventina-Projekt an die Tür klopfte. «Die Tessiner Behörden taten alles, um Grabungen möglich zu machen», sagt Della Casa. So schufen sie die politischen Voraussetzungen, trafen Vereinbarungen mit den Landeigentümern und stellten der Universität Zürich anstandslos die nötigen Bewilligungen aus.

Im Sommer 2004 traf dann der Grabungstross in Madrano ein – ein Dutzend Studierende und Assistierende aus Zürich mit einem Lastwagen voller Ausrüstung. Eine lokale Baufirma stellte den Bagger fürs Grobe, auf dem Mött Chiaslasc wurden Baucontainer und Grabungszelte aufgestellt. Die Arbeiten dauerten einen Monat; neben der Spurensuche im eigentlichen Grabungsfeld hob das Team auch neue Sondierungsgräben aus. Die jungen Leute, sagt Della Casa, hätten dabei alle wichtigen Schritte der archäologischen Feldarbeit gelernt: Vermessen, Sondieren, Graben, Fotografieren, Säubern, Zeichnen, Beschreiben, Dokumentieren, Verwalten. «Und dann geht es bei Grabungen ja immer auch um Soft Skills wie die Teamarbeit und das Funktionieren in der Gruppe. Wenn man gemeinsam im Regen steht und nasse Füsse hat, entstehen andere Beziehungen als im Hörsaal oder am Institut.»

Noch zwei Mal, im Sommer 2005 und im Sommer 2006, fuhren Grabungsteams der Universität Zürich nach Madrano. Mit dabei waren auch eine physische Geografin und eine Archäobotanikerin, die sich der Untersuchung von Bodenproben und fossilen Pflanzenfunden widmeten. Die interdisziplinäre Arbeit war Della Casa von Anfang an ein Anliegen: «Der Schwerpunkt unseres Siedlungsforschungsprojekts liegt auf der Vernetzung. Bisher wurden Daten selten interdisziplinär erhoben. Neu an unserer Vorgehensweise ist, dass die beteiligten Forscherinnen und Forscher von Anfang an von den gleichen Fragen ausgehen und zielgerichtet Informationen sammeln.»

Was brachte die Suche an den Tag? Die Archäologen unterscheiden zwischen Befunden und Funden. Befunde nennen sie strukturelle Objekte wie Wege, Feuerstellen oder Hausgrundrisse; Funde wiederum sind lose Dinge wie Knochen, Schmuck oder Hausrat. Die wichtigsten Befunde am Mött Chiaslasc waren Reste einer Befestigungsmauer und mehrerer Bebauungen. Bei den Funden handelte es sich vornehmlich um Glas- und Bernsteinperlen, Scherben von Keramikgefässen und Metallobjekte. «Wir fanden aber auch Steingewichte, die als Webgewichte gedient haben dürften, und grosse Bergkristalle, deren Zweck mir noch unklar ist», sagt Della Casa.

Und sie fanden vor allem auch verkohltes Holz und Getreide. Die schwarzen Splitter und Körnchen sind dem Archäologen oft mehr wert als Gold und Silber. Denn das Alter von Siedlungsresten lässt sich am besten mit Holzkohleproben aus den verschiedenen Grabungsschichten bestimmen. Getreide und Kohle aus Madrano kamen deshalb in den Beschleuniger des Instituts für Quantenphysik der ETH Zürich. Das Gerät misst den Zerfallsgrad des Kohlestoffisotops 14C, dessen Halbwertszeit 5700 Jahre beträgt. Resultat: Die älteste Besiedlung des Mött Chiaslasc geht auf die mittlere Bronzezeit um 1500 v. Chr. zurück, spätere Besiedlungen erfolgten in der jüngeren Eisenzeit zwischen 400 und 200 v. Chr. Dazwischen war nichts.

Dies konnte Della Casa nicht erstaunen. «Die Besiedlungslücke zwischen dem neunten und dem siebten Jahrhundert zeigt sich im ganzen Alpenraum », sagt der Prähistoriker. Als Grund dafür gilt eine Klimaverwerfung, vergleichbar mit der so genannten Kleinen Eiszeit zwischen 1560 und 1860, die die Menschen in tiefer gelegene Regionen zwang. Ins 9., 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. fällt aber auch die Verschiebung vom Werkstoff Bronze zum Eisen. War es die Korrelation von Klima und wirtschaftlicher Umwälzung, die damals zur Entsiedlung führte? Solche Fragen will Philippe Della Casa mit seinem Projekt beantworten.

Das Leventina-Projekt ist aber nur ein Puzzleteil. Della Casas Interesse gilt eigentlich dem gesamten Alpenraum. Sein Ziel ist es, Trends in der Besiedlungsgeschichte vor der römischen Eroberung der Alpen festzumachen. Neben rein geschichtlichen will er dabei auch soziale und wirtschaftliche Faktoren mit einbeziehen. «Die Alpen, insbesondere die Alpenpässe, sind siedlungshistorisch deshalb so interessant, weil hier der gesamte Handel durchging», erklärt der Prähistoriker. Ziel der Spurensuche war deshalb auch der Gotthardpass selbst. Auf dem berühmtesten Alpenübergang Europas hat man bis anhin nur gerade eine römische Münze dingfest gemacht, ältere Fundstücke gibt es keine. «Viele Historiker», sagt Della Casa, «behaupten, erst mit dem Bau der Teufelsbrücke hätten regelmässige Transporte über den Gotthard eingesetzt. Wahrscheinlich gab es sie aber schon viel früher.» Im Sommer 2007 fahndete ein Team aus angehenden Zürcher Archäologen und Historikerinnen auf dem Pass nach Hinweisen auf frühe menschliche Anwesenheit. Die Suche war nicht umsonst: Neben einem frühzeitlichen Hirtenunterstand und mehreren ebenso alten Trockensteinstrukturen entdeckten die Studierenden zwei Stellen, die mesolithischen Ursprungs sein dürften – was heisst, dass sich schon 7000 v. Chr. Menschen auf dem Gotthardpass getummelt oder hier bisweilen gar gesiedelt haben könnten.

Dürften. Könnten. Die Möglichkeitsform gehört zur Arbeit der Ur- und Frühgeschichtler. Philippe Della Casa will sich allerdings nicht mit Vermutungen zufrieden geben. «Mein Projekt ist erst am Anfang der zweiten Halbzeit», sagt er, «es gibt noch sehr viel zu tun.» Als nächstes will Della Casa alle gewonnenen Daten – archäologische, ökologische und wirtschaftliche – in einem geografischen Informationssystem (GIS) zusammenfügen. Die elektronischen Landkarten sollen Informationen wie Siedlungsstandorte, Wald- und Weidenutzung, Verkehrs- und Kommunikationswege sowie Distanzen und Wegzeiten miteinander verknüpfen und sichtbar machen, wobei das GIS in der Lage ist, wahlweise Kombinationen mehrerer oder aller dieser Informationen darzustellen. «Auf diese Art können wir auf regionaler und lokaler Ebene die Siedlungsszenarien der verschiedenen Epochen skizzieren», erklärt Della Casa.

Ganz am Ende seines noch bis 2009 laufenden Nationalfondsprojekts steht die Suche nach allfälligen Langzeithandlungsweisen der Alpenbewohner – Handlungsweisen aus frühgeschichtlicher Zeit etwa, die sich bis heute erhalten haben könnten. Sömmerten tatsächlich schon vor 3500 Jahren Bauern ihre Tiere in höheren Lagen und stellten dort Alpkäse her, den sie dann zu Tale trugen? Konnten auch die Pioniere der Bronzezeit nur überleben, indem sie die verschiedenen Alpstufen – Untersäss, Mittelsäss, Obersäss – landwirtschaftlich nutzten? Die Indizien häuften sich, dass dem so sei, sagt Philippe Della Casa. Und er will es wissen. «Wir sind mit unserem Projekt dort angelangt, wo die meisten archäologischen Untersuchungen aufhören würden. Der Reiz ist es aber eben, einen Schritt weiter zu gehen und zu fragen, wie und wovon frühe Siedler im Alpenraum denn wirklich gelebt haben.» Solche Gedanken seien freilich nicht mehr nur geschichtlicher, sondern bereits auch anthropologischer Natur, meint Della Casa. Doch letztlich bleibt er seiner Historiker- und Archäologenseele treu: «Was ich als Nächstes am liebsten finden würde», sagt Della Casa, «das wäre eine bronzezeitliche Alpsennerei mit allem Drum und Dran.»