News175 Jahre UZHAgendaVeranstaltungenFakultätstageAusstellungenBlog

jubiläumstram

Zum Autor

AlbertWettstein ist Privatdozent für geriatrische Neurologie und Stadtarzt in Zürich. Er ist Autor des Ringordners «Mythen und Fakten zum Altern», aus dem die obigen Ausführungen entnommen sind und der 126 Altersmythen und evidenzbasierte Fakten dazu enthält. Zürcher Schriften zur Gerontologie, Band 3. Zu bestellen beim Sekretariat des Kompetenzzentrums für Gerontologie unter: ZFG@zfg.unizh.ch

Stimmt es, dass alte Leute meist einsam, auf Hilfe angewiesen, unzufrieden und unflexibel sind?

Von Albert Wettstein

«Alle möchten alt werden, niemand alt sein», wird häufig gesagt. Tatsächlich geben schon 40-Jährige an, sich durchschnittlich um sechs Jahre jünger zu fühlen als sie tatsächlich sind; 80-Jährige fühlen sich durchschnittlich zehn Jahre jünger, was keineswegs nur jungnostalgischem Wunschdenken entspricht. Heutige Betagte sind nämlich gesünder und selbständiger als dies früher der Fall war. Ihr Zustand entspricht, nimmt man Werte aus den mittleren Neunzigerjahren zum Massstab, etwa dem von fünf Jahre jüngeren Menschen.

Die Schweizer Gesundheitsbefragung über das psychische Wohlbefinden mit zunehmendem Alter zeigt eindrücklich: Der Anteil von Personen, «die praktisch jeden Tag voller Kraft und Optimismus sind und sich meistens ruhig und gelassen fühlen», liegt bei den 15- bis 24-Jährigen bloss bei 33 Prozent und steigt dann mit zunehmendem Alter kontinuierlich an. Bei den 65-Jährigen sind es bereits 56 Prozent, bei den über 75-jährigen Frauen steigt der Anteil der Zufriedenen gar auf 60 Prozent an, bei den Männern auf 70 Prozent. Selbst in hohem Alter bis hundert bleibt das Wohlbefinden konstant, trotz zunehmender Anzahl der Erkrankungen, abnehmender Anzahl Angehöriger, abnehmendem Hör- und Sehvermögen, abnehmender Mobilität und mehr Heimaufenthalten.

Welches sind die Gründe für die hohe Zufriedenheit im Alter? Zum einen die Wohnform: Von den jungen Alten leben nur 21 Prozent allein, bei den über 80-Jährigen sind es noch immer bloss 42 Prozent. Hinzu kommt, dass von den über 85-jährigen Betagten, die zu fünf Sechsteln allein leben, sich nur 10 Prozent häufig einsam fühlen. 47 Prozent der allein lebenden Betagten geben sogar an, sich nie einsamzu fühlen.

Ein weiterer Grund für die hohe Zufriedenheit im Alter ist die stark erhöhte Sterberate von Betagten mit sehr wenigen engen Beziehungen im Vergleich zu Betagten mit vielen engen Beziehungen. Drastisch ausgedrückt: Die beziehungsarmen und unzufriedenen Alten sterben schneller.

Ein dritter Grund für die grosse Zufriedenheit unter Betagten ist die zunehmende Bedeutung von Familienbeziehungen: So stieg bei den über 65-Jährigen in der Schweiz der Anteil jener, die mindestens einmal wöchentlich Kontakt mit einem Kind hatten, zwischen 1992 bis 2002 von 63 auf 70 Prozent. Der Anteil Betagter mit weniger als einem persönlichen Kontakt pro Monat nahm von 13 auf 6 Prozent ab.

Der Anteil von Betagten in Paarbeziehungen wird von 1980 bis 2010 bei den Männern von 58 auf 71 Prozent steigen, bei den Frauen von 17 auf 32 Prozent. So gesehen, wird auch die Sexualität im Alter immer wichtiger werden. Denn der Wunsch nach täglicher körperlicher Zärtlichkeit bleibt auch im hohen Alter und nach über fünfzig Jahren Partnerschaft erhalten, und tatsächlich erleben Betagte in Partnerschaften noch durchschnittlich zwei bis dreimal wöchentlich Zärtlichkeiten.

Gelebte Sexualität im Alter ist nicht etwa gefährlich, sondern lebenserhaltend. Die Sterblichkeit betagter Männer ist neben anderen Faktoren wie Alter undKrankheiten umso niedriger, je häufiger sie Geschlechtsverkehr haben (Quantität), und bei Frauen, je häufiger sie Geschlechtsverkehr geniessen können (Qualität). Nicht erstaunlich ist deshalb die erhöhte Sterblichkeit der zölibatären Priester im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung. Dass ausser sexuellen Aspekten noch andere Beziehungsfaktoren im Alter wichtig sind, belegt der Umstand, dass Nonnen in klösterlichen Gemeinschaften diejenige Gruppe von Frauen darstellen, welche die höchste Lebenserwartung hat.

Ein vierter Grund für das bis ins hohe Alter erhaltene Wohlbefinden liegt darin, dass Hochbetagte noch sinnvolle Aufgaben ausfüllen. So erbringen 86 Prozent der 70- bis 100-Jährigen informelle Hilfe. Der Anteil helfender Hochbetagter entspricht etwa dem Anteil Hilfe empfangender Hochbetagter.

Ein fünfter Grund ist die auch im Alter noch vorhandene Flexibilität: BetagteMenschen sind sehr wohl noch in der Lage, ihre eigenen Ziele sich verändernden Umständen anzupassen. Zum Beispiel änderten sich bei 116 Betagten, die eine an zunehmender Demenz leidende Partnerin oder einen Partner betreuten, die subjektiv wichtigsten sechs Bereiche für die persönliche Lebensqualität signifikant: Weniger wichtig wurden Ehe und Gesundheit des Partners, wichtiger wurden persönliche Freiräume, Garten und Natur, innere Harmonie sowie Kultur.

Alle diese Fakten belegen, dass die Zunahme der Anzahl Betagter in unserer Gesellschaft kein Problem, sondern ein riesiger Fortschritt ist, und dass wir uns auf unser Alter freuen dürfen.