Von Gisela Hürlimann
Wenn man etwa Takafumi Kurosawa, einem japanischen Spezialisten für Schweizer Wirtschaftsgeschichte glaubt, dann heisst die Antwort: Ja! Dabei legt Bahnfan Kurosawa die Betonung auf das «System». Denn die schnellsten sind wir nicht – da überholen uns die deutschen, französischen, italienischen und neustens vor allem die spanischen Bahnen. Letztere verkehren nun zwischen Barcelona und Madrid mit Tempo 300 – bald sollen es 350 km/h sein. Mit einer Spitzengeschwindigkeit von 200 km/h auf der Neubaustrecke Mattstetten-Rothrist und im NEAT-Lötschbergtunnel können die SBB da natürlich nicht mithalten. Dabei träumte man 1969, im Jahr der Mondlandung, auch hierzulande von einer Reisezeit Zürich-Bern in 45 Minuten …
Doch statt der Hochgeschwindigkeitstransversalen zwischen den Metropolen, die den Regionalverkehr vernachlässigen, setzte sich ein föderalismustauglicher Mix durch: höheres Reisetempo im gesamten Netz durch Streckenausbau, Neigezüge und vor allem durch ein cleveres Fahrplankonzept, das schlanke Anschlüsse garantiert. «Nicht so schnell wie möglich, sondern so rasch wie nötig», lautete das erfolgreiche Motto, mit dem man 1986 das Milliarden teure Projekt Bahn 2000 an die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger brachte. Die Grundlage der Bahn 2000 bildet der 1972 von jungen SBB-Cracks ersonnene «Taktfahrplan Schweiz». Dabei musste der «Spinnerclub», wie die engagierten Jungakademiker ihren Verein nannten, das Rad nicht neu erfinden, sondern liess sich von den findigen Holländern inspirieren, die bereits seit den 30er-Jahren einen starren Fahrplan kannten. Trotzdem stiessen die «Spinner» zuerst auf Ablehnung. Dass sie sich schlussendlich durchsetzen und von den SBB-Obersten sogar honoriert wurden, illustriert, was der Soziologe Niklas Luhmann meinte, als er von der «brauchbaren Illegalität» informaler Gruppen in formalen Organisationen sprach. Am 23. Mai 1982 fand mit der Einführung des gesamtschweizerischen Taktfahrplans der erste Teil der Revolution im Bahnreiseverkehr statt.
Ein Volk der Bahnfahrer
Die Waldsterben-Diskussion und die Aussicht auf Subventionierung von Umweltschutzmassnahmen trugen das ihre dazu bei, dass die SBB ihren Widerstand gegen Preisnachlässe aufgaben und 1987 ein Halbpreis-Abonnement für 100 Franken lancierten. Dank geschicktem Marketing und in Kombination mit dem verbesserten Fahrplanangebot wurde das Halbtax ein Knüller. Und auch wenn es inzwischen teurer ist: Mehr als ein Viertel der gesamten Einwohnerschaft der Schweiz, nämlich 2 Millionen, besitzen es heute. Das Geheimnis des Erfolgs: Das Halbtax gilt, genauso wie das Generalabonnement (GA), nicht nur auf dem 3087 Kilometer langen SBB-Schienennetz, sondern im gesamten öffentlichen Verkehr. Für Professor Kurosawa ist dieser Tarifverbund das Pünktchen auf dem i. Wo sonst kann man im ganzen Land mit demselben Ticket im SBB-Intercity, im RegioExpress, in der Berner BLS, im Postauto, in der S-Bahn, im Trolleybus, im Tram oder per Schiff reisen – in Zürich gar mit dem Polybähnli? Die Bevölkerung dankt für diese Vorteile, indem sie sich als Europameister in Sachen Zugreisen erweist: Im Jahr 2006 fuhr jede in der Schweiz lebende Person 44 Mal Bahn. Weltweit tun dies nur die Japaner und Japanerinnen noch häufiger. Nimmt man die Anzahl zurückgelegter Kilometer pro Einwohner, dann liegt die Schweiz sogar noch vor Japan. Alle zwölf Minuten verkehrte 2006 im Durchschnitt ein Zug auf dem schweizerischen Normalspurnetz – häufiger wie nirgends in der Welt. Und wo wir schon bei den Rekorden sind: Wenn dereinst der NEAT-Tunnel durch den Gotthard fertiggestellt ist, wird das Schweizer Bahnnetz über den längsten Eisenbahntunnel verfügen – eine 57 Kilometer lange Röhre, schon aus Sicherheitsgründen mit allen High-Tech- Schikanen ausgerüstet.
Aufholbedarf beim Güterverkehr
Ist die Schweiz also ein Bahnparadies? Sicher, was das Kerngeschäft angeht. Für weitere Verbesserungen gibt es aber noch Spielraum; für die durchgehende Ausrüstung der Reisewagen mit Steckdosen und freiem Internetzugang beispielsweise. Oder für das berührungslose Ticketing, bei dem ein Chip den Ein- und Austritt automatisch registriert und Ticketkauf wie -kontrolle überflüssig macht. Ein entsprechendes Projekt hatten die SBB vor Jahren lanciert, wegen verschiedener Probleme fast eingestellt und schliesslich dem Verband öffentlicher Verkehr übergeben. Inzwischen hat man die Utopie eines kondukteurlosen Zugs aufgegeben – genauso wie die Vorstellung der 60er-Jahre, die Bahn der Zukunft ohne Lokomotivführer fahren zu lassen. Theoretisch wäre die Fernsteuerung der Züge dank Lenkungs- und Sicherungstechnologien wie dem European Train Control System, das mit Satellitennavigation verbunden wird, zwar möglich. Aber man will die Rückfallebene «Mensch» nicht aufgeben. Um mehr Automatisierung wird man jedoch im Güterverkehr nicht herumkommen. Die SBB waren einst innovativ in der Güterwaggon-Rangiertechnik. In Deutschland laufen derzeit Versuche mit einem über Mobilfunk gesteuerten, hoch flexiblen Cargoschienentaxi für den lokalen und regionalen Gütertransport. Ob eine solche Lösung auch im extrem ausgelasteten schweizerischen Schienennetz angezeigt wäre? Die Idee regt jedenfalls zum Weiterdenken an. Spinnerinnen und Spinner sind weiterhin gefragt.