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Rechtswissenschaftliche Fakultät

Rechtstheorie

Narrenschiff

Sucht man in der Rechtsprechung der Gerichte nach dem Wort Gerechtigkeit, ergibt sich eine enttäuschend winzige Trefferquote. Wo Gerechtigkeit überhaupt auftaucht, ist sie zuweilen das empörte Verlangen oder der zustimmende Ausruf einer Partei des Streits, also die Rede von Laien. Richterinnen und Richter hingegen gehen keusch um mit Gerechtigkeit, kleiden sie ein zum Beispiel als Steuerge-
rechtigkeit
oder, selten und diskret, als Einzelfallgerechtigkeit. Am liebsten aber meiden sie das Wort, denn: Die Gerechtigkeit lässt sich nicht näher beschreiben. Sie ist jedenfalls ein relativer Begriff .  Eine Kapitulation? Wissen Schweizer Gerichte nicht, was gerecht ist? Und ist damit das uralte Postulat in Vergessenheit geraten, dass Recht nicht um seiner selbst willen da ist, sondern um die Welt ein wenig gerechter zu machen?
Seit über zweitausend Jahre denkt man über Gerechtigkeit nach, und bis heute wandern Rechtsphilosophen verschlungene Pfade, um ihrer doch noch habhaft zu werden. Die Gerichte scheinen davon wenig beeindruckt. So hartnäckig sie die Gerechtigkeit meiden, so gerne setzen sie an ihre Stelle Gleichheit. Gleiche Fälle gleich behandeln. Das ist die justizförmige Fassung des Unworts Gerechtigkeit. Eine Schrumpfform? Jedenfalls eine Formel, die einfacher klingt, als sie ist. Denn jetzt muss man sagen, was denn gleich ist. Gleich in einer Welt mit ihren Fällen, die nie und nimmer gleich sind und deshalb nicht nach Gleichbehandlung, sondern immer noch nach individueller Gerechtigkeit rufen. Wenn Gerichte diesem Ruf nach Gerechtigkeit nicht folgen, so ist das weder Feigheit noch träge Unlust, darüber nachzudenken, was denn ein gerechter Entscheid sei. Doch je gründlicher dieses Nachdenken geschieht, um so eher kommt man zu dem ehrlichen Ergebnis: Gerechtigkeit ist relativ zu abertausend Einzelumständen, zu unüberschaubar verschiedenen Lebensschicksalen, zu unverdienten Chancen oder unverschuldeten Unfähigkeiten der Menschen. Wer hat da noch den Mut ja, die Frechheit! zu behaupten, er oder sie wisse, wisse mit Gewissheit, was in diesem Fall gerecht ist? Mögen Laien nach Herzenslust über Gerechtigkeit reden - das ist ihr gutes Recht -, Gerichte tun gut daran, ihr Augenmerk, so gut es geht, auf Gleichheit der Rechtsfälle zu richten und sich nicht anzumassen, ihre eigene, stets relative, Gerechtigkeit zu praktizieren und durchzusetzen. Über Gerechtigkeit spricht man nicht. Im Grunde ist das ein Gebot der Gerechtigkeit.

Prof. Dr. Marie Theres Fögen †

Rechtstheorie an der Universität Zürich