News175 Jahre UZHAgendaVeranstaltungenFakultätstageAusstellungenBlog

Rechtswissenschaftliche Fakultät

Gerechtigkeit und die Rechtsgeschichte

Justitia

Die Gerechtigkeit steht über der Zeit und ist in ihren konkreten Inhalten doch zutiefst zeitgebunden. Denn auch wenn allgemeine Aussagen über die Inhalte von Gerechtigkeit – etwa die Forderung, suum cuique tribuere (jedem das Seine zuzuteilen) – tief in der europäischen Rechtstradition verwurzelt sind, so ist die konkrete Umsetzung des Gerechtigkeitspostulats abhängig von seinem historischen Umfeld. Die Herrschaftsbefugnis des Grundherrn über die abhängigen Bauern erschien in Mittelalter und Früher Neuzeit nicht als ungerecht, sie ist uns heute unvorstellbar. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich im Zeichen der Industrialisierung wurde schon von den Zeitgenossen nicht einheitlich gedeutet; für manche war diese Situation Ausdruck je unterschiedlicher individueller Leistungsfähigkeit, für andere das Ergebnis einer nicht zu rechtfertigenden Verteilung von Vermögen und Lebenschancen. Die Vielfalt solcher Deutungen von Gerechtigkeit reicht bis in die Gegenwart, sie prägt auch unsere Rechtsordnung.
Gerechtigkeit, das machen diese Befunde deutlich, ist in ihren kon-
kreten Ausprägungen nur schwer zu fassen. Aber auch wenn damit die Suche nach Gerechtigkeit schwierig wird, so bleibt sie doch der wichtigste Wert für das Recht und ihre Verwirklichung die zentrale Aufgabe für Rechtsetzung und Rechtsanwendung. Das wird nur möglich sein, wenn die historische Zeitlichkeit von Gerechtigkeit dabei stets mitbedacht wird.

Prof. Dr. Andreas Thier

Rechtsgeschichte an der Universität Zürich