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Rechtswissenschaftliche Fakultät

Beispiel aus dem Privatversicherungsrecht

Anhand eines Beispiels soll im Folgenden gezeigt werden, mit was für Fragen sich das Privatversicherungsrecht typischerweise befasst.

 

Peter Mustermann reicht bei der X Versicherung einen Antrag auf Abschluss einer Autokaskoversicherung ein. Im schriftlichen Fragebogen der Versicherung antwortet er auf die Frage, ob er in der Vergangenheit Unfälle verursacht habe, mit nein, obwohl er im vergangen Jahr in angetrunkenem Zustand einen Unfall verursacht hat. In der Folge wird der Versicherungsvertrag abgeschlossen.

Einige Zeit nach Vertragsabschluss verunfallt Peter Mustermann erneut, da sein Fahrzeug auf schneebedeckter Fahrbahn ins Schleudern kommt und mit einem Baum kollidiert. Das Fahrzeug erleidet dabei einen Totalschaden. Herr Mustermann war im Unfallzeitpunkt nüchtern.

Frage: Muss die X Versicherung den Schaden am Fahrzeug bezahlen, obwohl Herr Mustermann den Versicherungsantrag falsch ausgefüllt hat?

Das Problem der Anzeigepflichtverletzung steht im geschilderten Sachverhalt im Mittelpunkt. Möchte eine Person einen Versicherungsvertrag abschliessen, erhält sie von der angefragten Versicherung in der Regel einen schriftlichen Fragebogen. Der Antragsteller ist nämlich verpflichtet, dem Versicherer sämtliche erhebliche Gefahrstatsachen mitzuteilen, die ihm bei Vertragsabschluss bekannt sind oder bekannt sein müssten. Hier stellen sich bereits die ersten Zwischenfragen: Was ist eine Gefahrstatsache? Und wann gilt eine Gefahrstatsache als erheblich?

Als Gefahrstatsachen gelten Tatsachen, die für den Versicherer bei der Beurteilung der versicherten Gefahr von Bedeutung sind, indem sie über Art und Umfang von Risikofaktoren Aufschluss geben. So können beim Abschluss einer Motorfahrzeugversicherung Alter, Geschlecht und Leumund (z.B. früherer Fahrausweisentzug) des Antragstellers Aufschluss darüber geben, mit welcher Wahrscheinlichkeit er einen Schaden verursachen wird. Die Versicherungen führen zu diesem Zweck detailreiche Statistiken.

 

Im vorliegenden Beispiel stellt der früher erlittene Schaden – Peter Mustermann hat in der Vergangenheit in angetrunkenem Zustand einen Unfall verursacht – eine Gefahrstatsache dar, da sie das Risiko erhöht, dass er wieder einen Unfall verursachen wird.

Allerdings besteht nicht für jede Gefahrstatsache eine Anzeigepflicht. Wie bereits erwähnt, existiert sie nur für erhebliche Gefahrstatsachen. Die Erheblichkeit ist dann zu bejahen, wenn die Gefahrstatsache geeignet ist, den Entschluss des Versicherers, den Vertrag überhaupt oder zu den vereinbarten Bedingungen abzuschliessen, zu beeinflussen. Zur Erleichterung dieses Nachweises wird vermutet, dass Gefahrstatsachen, nach denen der Versicherer schriftlich fragt, erheblich sind.

 

Hätte die X Versicherung den Vertrag abschlossen, wenn sie vom früheren Unfall von Herrn Mustermann gewusst hätte? Hätte sie zumindest höhere Prämien verlangt? Dies ist anzunehmen. Auch hat die X Versicherung im schriftlichen Fragebogen ausdrücklich nach früheren Verkehrsunfällen gefragt. Peter Mustermann wäre daher verpflichtet gewesen, die X Versicherung im Fragebogen über den früheren Unfall zu informieren. Da er dies nicht getan hat, obwohl er vom Unfall wusste, hat er seine Anzeigepflicht verletzt.

Was sind die Folgen der Anzeigepflichtverletzung? Wir sind wieder bei der eingangs gestellten Frage angelangt, ob die X Versicherung trotz der Anzeigepflichtverletzung den Schaden am Fahrzeug begleichen muss. An dieser Stelle ist es notwendig, einen kurzen historischen Exkurs zu machen:

Der Gesetzgeber hat Art. 6 VVG, der die Rechtsfolgen der Anzeigepflichtverletzung regelt, mit Wirkung seit 1. Januar 2006 geändert. Bis zur Gesetzesrevision galt diese Bestimmung als eine der problematischsten im gesamten Vertragsrecht – zumindest aus Sicht des Versicherungsnehmers. Weshalb?

Die alte Fassung von Art. 6 VVG erlaubte es dem Versicherer, innerhalb von vier Wochen, nachdem er von der Anzeigepflichtverletzung Kenntnis erhalten hatte, vom Vertrag zurückzutreten. Dies bedeutete, dass der Versicherer nicht leistungspflichtig wurde und bereits erbrachte Versicherungsleistungen (samt Zins) zurückfordern konnte. Weiter durfte der Versicherer die bereits bezahlten Prämien behalten und hatte sogar Anspruch auf die Prämie für die laufende Versicherungsperiode. Der Versicherungsnehmer stand somit noch schlechter da, als wenn er überhaupt keine Versicherung abgeschlossen hätte: Er musste selber für den Schaden aufkommen und hatte überdies die Prämien umsonst bezahlt.

Eine weitere Problematik der früheren Rechtslage bestand darin, dass gemäss Rechtsprechung zwischen der unrichtig mitgeteilten oder verschwiegenen Gefahrstatsache und dem eingetretenen Schadensereignis kein Kausalzusammenhang bestehen musste.

 

Beispiel: Im Antrag zum Abschluss einer Lebensversicherung verschweigt der Antragsteller einen früheren Herzinfarkt. Als er später an Krebs erkrankt und daran stirbt, macht die Versicherung Anzeigepflichtverletzung geltend, obwohl zwischen der verschwiegenen Gefahrstatsache (Herzinfarkt) und dem eingetreten Schadensereignis (Krebstod) kein Zusammenhang besteht.

Die Revision von Art. 6 VVG hat zu wesentlichen Änderungen geführt: Neu kann der Versicherer bei einer Anzeigepflichtverletzung nicht mehr vom Vertrag zurücktreten, sondern nur noch mit Wirkung für die Zukunft kündigen. Bereits erbrachte Versicherungsleistungen müssen nur noch dann zurückerstattet werden, wenn die nicht angezeigte erhebliche Gefahrstatsache den Eintritt oder den Umfang der eingetretenen Schäden beeinflusst hat. Es wird kaum überraschen zu hören, dass in der Lehre eine Diskussion darüber entstanden ist, ob „beeinflussen“ mit Kausalität gleichzusetzen ist, doch soll diese beinahe philosophische Frage hier nicht weiter vertieft werden. Wie sieht es nun in unserem Beispiel aus?

 

Die Tatsache, dass Peter Mustermann in der Vergangenheit in angetrunkenem Zustand einen Unfall verursacht hat, hat weder den Eintritt noch den Umfang des eingetretenen Schadens beeinflusst. Die X Versicherung muss daher trotz der Anzeigepflichtverletzung für den Schaden am Fahrzeug aufkommen und kann lediglich mit Wirkung für die Zukunft den Vertrag kündigen.

Nach der römischen Juristenweisheit, dass wir auf hoher See und vor Gericht in Gottes Hand sind, ist an dieser Stelle zu betonen, dass eine gefestigte Rechtsprechung zur neuen Fassung von Art. 6 VVG noch fehlt, weshalb nicht vorausgesagt werden kann, wie die Gerichte entscheiden würden, wenn sie diesen Fall tatsächlich zu beurteilen hätten. Und selbst wenn eine gefestigte Rechtsprechung bestehen würde, bliebe der römische Ausspruch wohl anwendbar und eine Prognose über den Ausgang eines Gerichtsverfahrens entsprechend heikel.

Vielleicht kann das Beispiel daher auch dazu dienen zu erklären, weshalb die erste Antwort eines Juristen fast immer „Es kommt darauf an“ lauten wird. Nicht zuletzt wegen unbestimmter Begriffe wie „erheblich“ oder „beeinflussen“ kann niemand mit Sicherheit sagen, dass die eigene Auslegung dieser Begriffe mit jener der Gerichte übereinstimmen wird. Jede Einzelheit eines Sachverhaltes kann sich auf die Gesamtbeurteilung eines Falles auswirken.

Lediglich der Vollständigkeit halber ist zu ergänzen, dass sich wie bei jeder Gesetzesrevision die Frage stellt, ob das alte oder das neue Recht anwendbar ist, wenn die Anzeigepflichtverletzung noch unter der Geltung des alten Rechts begangen wurde, d.h. vor dem 1. Januar 2006. Hierzu finden sich verschiedene Lehrmeinungen, sodass auch in dieser Frage ein (hoffentlich) klärendes Wort der Gerichte abzuwarten ist.