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Ohne Skalpell - Operieren mit Ultraschall

Operationen am Gehirn, ohne die Schädeldecke zu öffnen? Was heute unvorstellbar scheint, könnte mit dem Hochenergie-Ultraschallsystem des Universitäts- Kinderspitals bald schon Wirklichkeit werden.

Von Brigitte Blöchlinger

Paul schmerzt das Bein, das vor Jahren amputiert wurde – Margrits Hände werden ständig durch ein starkes Zittern gestört – Jan hört einen Pfeifton, der ihm den Schlaf raubt – Laura leidet seit frühster Kindheit an epileptischen Anfällen. So unterschiedlich solche Erkrankungen sind – Phantomschmerzen, Parkinsonsches Zittern, Tinnitus und Epilepsie – sie alle haben etwas gemeinsam: Ihre Symptome entstehen aufgrund einer Funktionsstörung im Gehirn. In fünf bis zehn Prozent der Fälle werden Menschen mit solchen Hirnfunktionsstörungen therapieresistent; weder Medikamente noch andere Behandlungsformen vermögen ihre stark eingeschränkte Lebensqualität zu verbessern.

Den hohen Leidensdruck lindern kann nur noch eine Hirnoperation – was vielen Angst einflösst. Denn das Gehirn ist unser wichtigstes Organ, das Zentrum unseres Seins, an das man nicht gerne rührt. Und es ist auch physikalisch schwierig zu erreichen, da es von einer harten Schädeldecke umhüllt ist. Um operativ überhaupt zum Kern des Problems vorzustossen, muss der Chirurg die Schädelkalotte öffnen, was, wie bei jeder Operation, mit Infektionsund Blutungsgefahr verbunden ist. Ausserdem zerstören die Instrumente beim Eindringen ins Gehirn mehr oder weniger Hirngewebe – dies an einem Ort, «wo jeder Millimeter kostbar ist», wie der Neurochirurg Daniel Jeanmonod sagt.

OHNE BOHRER UND SKALPELL

Mit dem neuen Hochenergie-Ultraschallsystem der israelischen Firma InSightec, das seit Mitte 2006 am MR-Zentrum des Universitäts-Kinderspitals installiert ist, wird die Operationstechnik zur Beseitigung von Hirnfunktionsstörungen revolutioniert. Bei diesem Hightech-Gerät durchdringen 1024 hochenergetische «Ultraschallbündel » von allen Seiten den intakten Schädelknochen, um im vorher festgelegten Zielpunkt, im Innersten des Gehirns, die Zellen der irreversibel fehlfunktionierenden millimeterkleinen Region des Thalamus auszuschalten. Der ganze Eingriff geschieht bildgesteuert und unter laufender Kontrolle der Temperatur am Zielort. Bevor also das Ärzteteam «scharf schiesst», kann es sich visuell auf dem Computerbildschirm absichern: Sind wir ganz genau an der richtigen Stelle? Ist die Ultraschall-Energie perfekt fokussiert und dosiert? Erst wenn alles überprüft ist, drückt der Chirurg auf den «roten Knopf» und vollzieht, computergesteuert, den entscheidenden «Schnitt» – beziehungsweise eben: das Hochenergie-Ultraschallsystem koaguliert die krankmachende Stelle im Thalamus – hochpräzis, wohldosiert, vollständig kontrolliert, und ohne Bohrer oder Skalpell.

«Damit können wir einen völlig neuen Weg beschreiten, um Menschen mit schweren therapieresistenten Hirnfunktionsstörungen wieder eine gute Lebensqualität zu geben», sagt Daniel Jeanmonod, der begeistert ist von den Möglichkeiten des Hochenergie-Ultraschallsystems. Zusammen mit dem Leiter des MR-Zentrums, Ernst Martin, wird Jeanmonod die ersten Operationen mit dem neuen Gerät durchführen. Ein interdisziplinäres Team mit Mitgliedern der ETH, des Kinderspitals und des Universitätsspitals Zürich unterstützt sie mit ihrem Spezialistenwissen. Als erste klinische Anwendung plant das Team Operationen mit Hochenergie- Ultraschall bei Patienten mit Nervenschmerzen (zum Beispiel Phantomschmerzen), dann bei solchen mit Parkinson und schliesslich, mit zunehmender Erfahrung, bei Kindern mit bestimmten Epilepsieformen. Noch dieses Jahr könnte es so weit sein.

Bis der Operateur die thermische Behandlung einschaltet, braucht es verschiedene Vorabklärungen, bei denen bildgebende Verfahren eine entscheidende Rolle spielen. «Deshalb ist es ideal, wenn ein erfahrener pädiatrischer Neuroradiologe wie Professor Ernst Martin vom Kinderspital mit dem Neurochirurgen für die neue Operationstechnik zusammenarbeitet», lobt Jeanmonod die bestehende Kooperation. Das Projekt ist auch im Nationalen Forschungsschwerpunktzentrum NCCR Co-Me (Computer Aided and Image Guided Medical Interventions) integriert.

GESTÖRTE KOMMUNIKATION IM HIRN

Die neue Operationstechnik mit Hochenergie- Ultraschall ist revolutionär. Nicht nur das Wie, sondern auch das Was ändert sich dank des neuen Geräts. Üblicherweise wird in der Neurochirurgie bei Hirnfunktionsstörungen der Thalamus von der Hirnrinde entkoppelt; oder beide werden gedämpft, um die Symptome zu beseitigen. «Eine regulierende Operationsstrategie, die das Gehirn wieder ins Gleichgewicht bringt, ist klar vorzuziehen», sagt Jeanmonod. Weshalb? Um das zu erklären, muss der Neurochirurg etwas ausholen.

Bei Hirnfunktionsstörungen wie Epilepsie, Phantomschmerz, Parkinson, Tinnitus ist die Kommunikation zwischen verschiedenen Hirnarealen gestört. Vor allem jene zwischen dem Thalamus (einem Kern im Zentrum beider Hirnhälften) und der Rinde (dem Cortex). Auch in gesundem Zustand ist die thalamo-kortikale Verbindung keine Einwegkommunikation, sie geschieht in Schleifen, in «thalamo-kortikalen Modulen», wie der Neurochirurg es nennt. Die Schleifen ihrerseits sind miteinander verbunden. Die Reize gehen hin und her, in einer Schlaufe ohne Anfang und Ende, und bilden so unzählige Loops. Wie bei anderen Loops auch, entstehen bei der Informationsübertragung im Gehirn Schwingungen, schnellere und langsamere – und damit Rhythmen. Während des Tiefschlafs oszillieren die Schlaufen ganz langsam (1 bis 4 Mal pro Sekunde), im Wachzustand sind sie schneller (bis 80 Mal pro Sekunde). Die langsamen und die schnellen Rhythmen haben verschiedene Aufgaben. «Man kann es sich so vorstellen: die langsamen Frequenzen sind für die Verteilung der ‹Arbeit› zuständig, die schnellen für die Durchführung, indem sie die relevanten kortikalen Areale aktivieren», erklärt Jeanmonod. Für ihn als Neurochirurgen und Neurophysiologen ist eine Hirnfunktionsstörung ein «Netzwerkverzerrungsproblem», und wie jedes Netzwerk muss es ganzheitlich behandelt werden. «Dysrhythmie» (ungünstige Rhythmen) wird diese Verzerrung genannt. Die operative Behandlung zielt nun darauf ab, selektiv und minimal invasiv ein neues Gleichgewicht im Gehirn des Patienten zu etablieren.

Schauen wir die Problematik anhand des Beispiels Phantomschmerz an. Nach einer Beinamputation werden die eintretenden Informationen vom Körper in den Thalamus reduziert; die betroffenen Thalamischen Areale kippen immer mehr in eine langsamere Rhythmizität von 4- bis 9-mal pro Sekunde. Diese langsamen Rhythmen beeinflussen die umliegenden Rindenareale, die mit einer erhöhten Produktion von schnellen Frequenzen antworten. Erreicht dieser Überschuss von hohen Rhythmen schliesslich das Schmerzareal des Fusses in der Hirnrinde, tut es dem Patienten im «Fuss» weh, obwohl er gar keinen mehr hat. Ein Elektroenzephalogramm bestätigt das subjektive Empfinden: Im EEG sieht man die Erhöhung der langsamen und schnellen Frequenzen in mehreren Rindenarealen, die mit dem Schmerzempfinden zu tun haben.

Unterbindet nun der Neurochirurg bei einer Operation einfach die Nervenbahnen, die ins Gehirn gehen, durch weitere Schnitte, können Phantomschmerzen leider nach einer gewissen Zeit wieder auftauchen. «Ist der Schmerz durch eine Reduktion entstanden», so Jeanmonod, «bringt jede weitere operative Reduktion einen zusätzlichen Ausfall von Funktionen und damit das Risiko für noch mehr Dysrhythmie im Gehirn.» Im Thalamus jedoch befinden sich die millimetergrossen dysfunktionellen Regulationsgebiete, die als optimale Zielpunkte gelten. Denn die Zellen dort – «und nur dort», betont Jeanmonod – «sind zu 99 Prozent für ihre normale Funktion ausgeschaltet und dienen zu nichts anderem, als die Dysrhythmie aufrechtzuerhalten. » Auf diese Punkte zielt Jeanmonod bei seinen Operationen.

ANGST VOR DEM RÜCKFALL

Die Erkenntnis, dass Hirnfunktionsstörungen am besten im und um den Thalamus angegangen werden können, basiert auf der langjährigen intensiven Zusammenarbeit zwischen der Neurochirurgie in Zürich und der neurophysiologischen Gruppe von Prof. Llinas an der New York University sowie auf Ergebnissen verschiedener internationaler Forschungsgruppen. «Einzig in diesen Regulationsarealen des Thalamus kann man die Dysrhythmie im Gehirn reduzieren, ohne Ausfälle zu produzieren und ohne Risiko, noch mehr Dysrhythmie zu provozieren», fasst Jeanmonod seine Ausführungen zusammen. Ist die ausgewählte Stelle im Thalamus ausgeschaltet, spürt der Patient noch auf dem Operationstisch das Nachlassen verschiedener Zielsymptome.

Um nach langen Jahren des Leidens so plötzlich mit der beschwerdefreien oder stark gebesserten Situation umgehen zu können, benötigen chronisch leidende Menschen vor und nach der Operation eine intensive psychotherapeutische Betreuung. «Die Angst vor einem Rückfall, zum Beispiel, kann das betroffene Hirnsystem wieder deregulieren», hat der Neurochirurg erfahren. «Deshalb muss man dem Patienten helfen, das Vertrauen in seinen Körper, in sein Gehirn, in sich selbst und in sein Leben wieder aufzubauen. » Die kognitiv-emotionalen Funktionen sind im Gehirn auf zahlreiche Areale verteilt, deshalb lassen sie sich operativ nicht beeinflussen. «Eine Psychotherapie ist deshalb voll indiziert; kombiniert mit der operativen Behandlung bietet sie dem Patienten eine gute Chance, auf allen Ebenen ins Gleichgewicht zu kommen», sagt der Neurochirurg. Auch wenn mit dem Hochenergie-Ultraschallsystem ein Hightech-Gerät der Superklasse zur Verfügung steht, vergisst das zuständige Team deshalb die ganzheitliche Betreuung nicht: «Gefühle gehören zum Patienten und können nicht herausgeschnitten werden.»